Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

dieses war nun das grösste und fürchterlichste. Die
Mönche bewirtheten mich mit schönen Orangen, und
bedauerten, dass die Engländer schon die besten alle
aufgegessen und mitgenommen hätten, sagten aber
nicht dabey, wie viel das Kloster Geschenke dafür er¬
halten haben mag: denn man bezahlt gewöhnlich der¬
gleichen Höflichkeiten ziemlich theuer. Hier hat man
einen ähnlichen Gang, wie das Ohr des Dionysius;
er ist aber nicht ausgeführt worden, weil man ver¬
muthlich den Stein zu dem Behufe nicht tauglich
fand. Man kann stundenlang hier herum spazieren,
und findet immer wieder irgend etwas groteskes und
abenteuerliches, das man noch nicht gesehen hat.
Wenn man nun die alte Geschichte zurückruft, so er¬
hält das Ganze ein sonderbares Interesse, das man
vielleicht an keinem Platze des Erdbodens in diesem
Grade wieder findet. Besonders rührend war mir hier
an Ort und Stelle die bekannte Anekdote, dass viele
Gefangene sich aus der traurigen Lage bloss durch ei¬
nige Verse des Euripides zogen: und mich däucht, ein
schöneres Opfer ist nie einem Dichter gebracht worden.

In dem heutigen Syrakus oder dem alten Insel¬
chen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als
der alte Minerventempel und die Arethuse. Diese
Quelle ist, wenn man auch mit keiner Sylbe an die
alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten
und sonderbarsten, die es vielleicht giebt. Wenn sie
auch nicht vom Alpheus kommt, so kommt sie doch
gewiss von dem festen Lande der Insel; und schon
dieser Gang ist wundersam genug. Wo einmahl etwas
da ist, kommt es den Dichtern auf einige Grade Er¬

dieses war nun das gröſste und fürchterlichste. Die
Mönche bewirtheten mich mit schönen Orangen, und
bedauerten, daſs die Engländer schon die besten alle
aufgegessen und mitgenommen hätten, sagten aber
nicht dabey, wie viel das Kloster Geschenke dafür er¬
halten haben mag: denn man bezahlt gewöhnlich der¬
gleichen Höflichkeiten ziemlich theuer. Hier hat man
einen ähnlichen Gang, wie das Ohr des Dionysius;
er ist aber nicht ausgeführt worden, weil man ver¬
muthlich den Stein zu dem Behufe nicht tauglich
fand. Man kann stundenlang hier herum spazieren,
und findet immer wieder irgend etwas groteskes und
abenteuerliches, das man noch nicht gesehen hat.
Wenn man nun die alte Geschichte zurückruft, so er¬
hält das Ganze ein sonderbares Interesse, das man
vielleicht an keinem Platze des Erdbodens in diesem
Grade wieder findet. Besonders rührend war mir hier
an Ort und Stelle die bekannte Anekdote, daſs viele
Gefangene sich aus der traurigen Lage bloſs durch ei¬
nige Verse des Euripides zogen: und mich däucht, ein
schöneres Opfer ist nie einem Dichter gebracht worden.

In dem heutigen Syrakus oder dem alten Insel¬
chen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als
der alte Minerventempel und die Arethuse. Diese
Quelle ist, wenn man auch mit keiner Sylbe an die
alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten
und sonderbarsten, die es vielleicht giebt. Wenn sie
auch nicht vom Alpheus kommt, so kommt sie doch
gewiſs von dem festen Lande der Insel; und schon
dieser Gang ist wundersam genug. Wo einmahl etwas
da ist, kommt es den Dichtern auf einige Grade Er¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0280" n="254"/>
dieses war nun das grö&#x017F;ste und fürchterlichste. Die<lb/>
Mönche bewirtheten mich mit schönen Orangen, und<lb/>
bedauerten, da&#x017F;s die Engländer schon die besten alle<lb/>
aufgegessen und mitgenommen hätten, sagten aber<lb/>
nicht dabey, wie viel das Kloster Geschenke dafür er¬<lb/>
halten haben mag: denn man bezahlt gewöhnlich der¬<lb/>
gleichen Höflichkeiten ziemlich theuer. Hier hat man<lb/>
einen ähnlichen Gang, wie das Ohr des Dionysius;<lb/>
er ist aber nicht ausgeführt worden, weil man ver¬<lb/>
muthlich den Stein zu dem Behufe nicht tauglich<lb/>
fand. Man kann stundenlang hier herum spazieren,<lb/>
und findet immer wieder irgend etwas groteskes und<lb/>
abenteuerliches, das man noch nicht gesehen hat.<lb/>
Wenn man nun die alte Geschichte zurückruft, so er¬<lb/>
hält das Ganze ein sonderbares Interesse, das man<lb/>
vielleicht an keinem Platze des Erdbodens in diesem<lb/>
Grade wieder findet. Besonders rührend war mir hier<lb/>
an Ort und Stelle die bekannte Anekdote, da&#x017F;s viele<lb/>
Gefangene sich aus der traurigen Lage blo&#x017F;s durch ei¬<lb/>
nige Verse des Euripides zogen: und mich däucht, ein<lb/>
schöneres Opfer ist nie einem Dichter gebracht worden.</p><lb/>
        <p>In dem heutigen Syrakus oder dem alten Insel¬<lb/>
chen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als<lb/>
der alte Minerventempel und die Arethuse. Diese<lb/>
Quelle ist, wenn man auch mit keiner Sylbe an die<lb/>
alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten<lb/>
und sonderbarsten, die es vielleicht giebt. Wenn sie<lb/>
auch nicht vom Alpheus kommt, so kommt sie doch<lb/>
gewi&#x017F;s von dem festen Lande der Insel; und schon<lb/>
dieser Gang ist wundersam genug. Wo einmahl etwas<lb/>
da ist, kommt es den Dichtern auf einige Grade Er¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254/0280] dieses war nun das gröſste und fürchterlichste. Die Mönche bewirtheten mich mit schönen Orangen, und bedauerten, daſs die Engländer schon die besten alle aufgegessen und mitgenommen hätten, sagten aber nicht dabey, wie viel das Kloster Geschenke dafür er¬ halten haben mag: denn man bezahlt gewöhnlich der¬ gleichen Höflichkeiten ziemlich theuer. Hier hat man einen ähnlichen Gang, wie das Ohr des Dionysius; er ist aber nicht ausgeführt worden, weil man ver¬ muthlich den Stein zu dem Behufe nicht tauglich fand. Man kann stundenlang hier herum spazieren, und findet immer wieder irgend etwas groteskes und abenteuerliches, das man noch nicht gesehen hat. Wenn man nun die alte Geschichte zurückruft, so er¬ hält das Ganze ein sonderbares Interesse, das man vielleicht an keinem Platze des Erdbodens in diesem Grade wieder findet. Besonders rührend war mir hier an Ort und Stelle die bekannte Anekdote, daſs viele Gefangene sich aus der traurigen Lage bloſs durch ei¬ nige Verse des Euripides zogen: und mich däucht, ein schöneres Opfer ist nie einem Dichter gebracht worden. In dem heutigen Syrakus oder dem alten Insel¬ chen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als der alte Minerventempel und die Arethuse. Diese Quelle ist, wenn man auch mit keiner Sylbe an die alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten und sonderbarsten, die es vielleicht giebt. Wenn sie auch nicht vom Alpheus kommt, so kommt sie doch gewiſs von dem festen Lande der Insel; und schon dieser Gang ist wundersam genug. Wo einmahl etwas da ist, kommt es den Dichtern auf einige Grade Er¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/280
Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/280>, abgerufen am 22.11.2024.