Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

Diese Thatsachen haben bei mir die Hypothese der cada-
verösen Infection nicht erschüttert, im Gegentheil, diese That-
sachen haben die Hypothese der cadaverösen Infection bekräf-
tiget, denn es spricht für die Wahrheit der cadaverösen Infec-
tion, wenn Gegner der cadaverösen Infection eine grössere
Sterblichkeit haben, als der Erdichter der cadaverösen Infec-
tion, denn die Gegner beaufsichtigen die Chlorwaschungen nicht
so gewissenhaft, als der Erdichter der cadaverösen Infection.

C. Braun macht es mir zum Vorwurfe, dass ich mich mei-
stens auf die Vergangenheit stütze, und daraus sehr kühne
Schlüsse ziehe. Ich mache es C. Braun zum Vorwurfe, dass er
sich meistens auf die Gegenwart stützt, und daraus sehr falsche
Schlüsse zieht.

In welche Barbarei würde das Menschengeschlecht ver
sinken, wenn die Vergangenheit für folgende Generationen
verloren wäre. Kann eine Generation die Schifffahrt erfinden
und einen Great-Eastern bauen, wie viele Generationen muss-
ten sich abmühen, bis man es zu Locomotiven brachte, welche
den Semmering befahren.

Doch bleiben wir bei dem Puerperalfieber. C. Braun sagt:
"Im Wintersemester 1849/50 trat wie gewöhnlich im Herbste
das Puerperalfieber mit Heftigkeit auf," und aus dieser Beob-
achtung, die sich auf die Gegenwart stützt, zieht er den fal-
schen Schluss, dass der Winter dasjenige sei, welches das
Puerperalfieber erzeuget, die Vergangenheit lehrt, dass im Wie-
ner Gebärhause während 25 Jahren nicht eine Wöchnerin von
100 Wöchnerinnen starb; die Vergangenheit lehrt, dass in Eng-
land in 19 Jahren keine Wöchnerin und in 105 Jahren nicht
eine von 100 Wöchnerinnen in den dortigen Gebärhäusern
starb; ich stütze mich auf die Vergangenheit und ziehe daraus
den wahren Schluss, dass der Winter nicht das Kindbettfieber
erzeuget. (Siehe Tabelle Nr. XVII., Seite 62 und Tabelle
Nr. XXXIV., Seite 177.)

Und wenn C. Braun desshalb die Vergangenheit nicht gel-
ten lassen will, weil der Geburtshelfer nicht im Stande sei, über

Semmelweis, Kindbettfieber. 32

Diese Thatsachen haben bei mir die Hypothese der cada-
verösen Infection nicht erschüttert, im Gegentheil, diese That-
sachen haben die Hypothese der cadaverösen Infection bekräf-
tiget, denn es spricht für die Wahrheit der cadaverösen Infec-
tion, wenn Gegner der cadaverösen Infection eine grössere
Sterblichkeit haben, als der Erdichter der cadaverösen Infec-
tion, denn die Gegner beaufsichtigen die Chlorwaschungen nicht
so gewissenhaft, als der Erdichter der cadaverösen Infection.

C. Braun macht es mir zum Vorwurfe, dass ich mich mei-
stens auf die Vergangenheit stütze, und daraus sehr kühne
Schlüsse ziehe. Ich mache es C. Braun zum Vorwurfe, dass er
sich meistens auf die Gegenwart stützt, und daraus sehr falsche
Schlüsse zieht.

In welche Barbarei würde das Menschengeschlecht ver
sinken, wenn die Vergangenheit für folgende Generationen
verloren wäre. Kann eine Generation die Schifffahrt erfinden
und einen Great-Eastern bauen, wie viele Generationen muss-
ten sich abmühen, bis man es zu Locomotiven brachte, welche
den Semmering befahren.

Doch bleiben wir bei dem Puerperalfieber. C. Braun sagt:
»Im Wintersemester 1849/50 trat wie gewöhnlich im Herbste
das Puerperalfieber mit Heftigkeit auf,« und aus dieser Beob-
achtung, die sich auf die Gegenwart stützt, zieht er den fal-
schen Schluss, dass der Winter dasjenige sei, welches das
Puerperalfieber erzeuget, die Vergangenheit lehrt, dass im Wie-
ner Gebärhause während 25 Jahren nicht eine Wöchnerin von
100 Wöchnerinnen starb; die Vergangenheit lehrt, dass in Eng-
land in 19 Jahren keine Wöchnerin und in 105 Jahren nicht
eine von 100 Wöchnerinnen in den dortigen Gebärhäusern
starb; ich stütze mich auf die Vergangenheit und ziehe daraus
den wahren Schluss, dass der Winter nicht das Kindbettfieber
erzeuget. (Siehe Tabelle Nr. XVII., Seite 62 und Tabelle
Nr. XXXIV., Seite 177.)

Und wenn C. Braun desshalb die Vergangenheit nicht gel-
ten lassen will, weil der Geburtshelfer nicht im Stande sei, über

Semmelweis, Kindbettfieber. 32
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0509" n="497"/>
          <p>Diese Thatsachen haben bei mir die Hypothese der cada-<lb/>
verösen Infection nicht erschüttert, im Gegentheil, diese That-<lb/>
sachen haben die Hypothese der cadaverösen Infection bekräf-<lb/>
tiget, denn es spricht für die Wahrheit der cadaverösen Infec-<lb/>
tion, wenn Gegner der cadaverösen Infection eine grössere<lb/>
Sterblichkeit haben, als der Erdichter der cadaverösen Infec-<lb/>
tion, denn die Gegner beaufsichtigen die Chlorwaschungen nicht<lb/>
so gewissenhaft, als der Erdichter der cadaverösen Infection.</p><lb/>
          <p>C. Braun macht es mir zum Vorwurfe, dass ich mich mei-<lb/>
stens auf die Vergangenheit stütze, und daraus sehr kühne<lb/>
Schlüsse ziehe. Ich mache es C. Braun zum Vorwurfe, dass er<lb/>
sich meistens auf die Gegenwart stützt, und daraus sehr falsche<lb/>
Schlüsse zieht.</p><lb/>
          <p>In welche Barbarei würde das Menschengeschlecht ver<lb/>
sinken, wenn die Vergangenheit für folgende Generationen<lb/>
verloren wäre. Kann eine Generation die Schifffahrt erfinden<lb/>
und einen Great-Eastern bauen, wie viele Generationen muss-<lb/>
ten sich abmühen, bis man es zu Locomotiven brachte, welche<lb/>
den Semmering befahren.</p><lb/>
          <p>Doch bleiben wir bei dem Puerperalfieber. C. Braun sagt:<lb/>
»Im Wintersemester 1849/50 trat wie gewöhnlich im Herbste<lb/>
das Puerperalfieber mit Heftigkeit auf,« und aus dieser Beob-<lb/>
achtung, die sich auf die Gegenwart stützt, zieht er den fal-<lb/>
schen Schluss, dass der Winter dasjenige sei, welches das<lb/>
Puerperalfieber erzeuget, die Vergangenheit lehrt, dass im Wie-<lb/>
ner Gebärhause während 25 Jahren nicht eine Wöchnerin von<lb/>
100 Wöchnerinnen starb; die Vergangenheit lehrt, dass in Eng-<lb/>
land in 19 Jahren keine Wöchnerin und in 105 Jahren nicht<lb/>
eine von 100 Wöchnerinnen in den dortigen Gebärhäusern<lb/>
starb; ich stütze mich auf die Vergangenheit und ziehe daraus<lb/>
den wahren Schluss, dass der Winter nicht das Kindbettfieber<lb/>
erzeuget. (Siehe Tabelle Nr. XVII., Seite 62 und Tabelle<lb/>
Nr. XXXIV., Seite 177.)</p><lb/>
          <p>Und wenn C. Braun desshalb die Vergangenheit nicht gel-<lb/>
ten lassen will, weil der Geburtshelfer nicht im Stande sei, über<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Semmelweis,</hi> Kindbettfieber. 32</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[497/0509] Diese Thatsachen haben bei mir die Hypothese der cada- verösen Infection nicht erschüttert, im Gegentheil, diese That- sachen haben die Hypothese der cadaverösen Infection bekräf- tiget, denn es spricht für die Wahrheit der cadaverösen Infec- tion, wenn Gegner der cadaverösen Infection eine grössere Sterblichkeit haben, als der Erdichter der cadaverösen Infec- tion, denn die Gegner beaufsichtigen die Chlorwaschungen nicht so gewissenhaft, als der Erdichter der cadaverösen Infection. C. Braun macht es mir zum Vorwurfe, dass ich mich mei- stens auf die Vergangenheit stütze, und daraus sehr kühne Schlüsse ziehe. Ich mache es C. Braun zum Vorwurfe, dass er sich meistens auf die Gegenwart stützt, und daraus sehr falsche Schlüsse zieht. In welche Barbarei würde das Menschengeschlecht ver sinken, wenn die Vergangenheit für folgende Generationen verloren wäre. Kann eine Generation die Schifffahrt erfinden und einen Great-Eastern bauen, wie viele Generationen muss- ten sich abmühen, bis man es zu Locomotiven brachte, welche den Semmering befahren. Doch bleiben wir bei dem Puerperalfieber. C. Braun sagt: »Im Wintersemester 1849/50 trat wie gewöhnlich im Herbste das Puerperalfieber mit Heftigkeit auf,« und aus dieser Beob- achtung, die sich auf die Gegenwart stützt, zieht er den fal- schen Schluss, dass der Winter dasjenige sei, welches das Puerperalfieber erzeuget, die Vergangenheit lehrt, dass im Wie- ner Gebärhause während 25 Jahren nicht eine Wöchnerin von 100 Wöchnerinnen starb; die Vergangenheit lehrt, dass in Eng- land in 19 Jahren keine Wöchnerin und in 105 Jahren nicht eine von 100 Wöchnerinnen in den dortigen Gebärhäusern starb; ich stütze mich auf die Vergangenheit und ziehe daraus den wahren Schluss, dass der Winter nicht das Kindbettfieber erzeuget. (Siehe Tabelle Nr. XVII., Seite 62 und Tabelle Nr. XXXIV., Seite 177.) Und wenn C. Braun desshalb die Vergangenheit nicht gel- ten lassen will, weil der Geburtshelfer nicht im Stande sei, über Semmelweis, Kindbettfieber. 32

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/509
Zitationshilfe: Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/509>, abgerufen am 13.05.2024.