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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861.

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26 % und sagt dennoch, dass er häufig nach Sectionen von an
septischem Puerperalfieber Verstorbenen zu Entbindungen
ging, ohne in einem einzigen Falle einen Nachtheil beobachtet
zu haben. An Nachtheilen hat es nicht gefehlt, wie die 26 %
Sterblichkeit beweiset, aber an der Fähigkeit den Nachtheil
zu erkennen, hat es gefehlt. Und dass Kiwisch keine Ahnung
hatte von der heilbringenden Wahrheit, welche in den Beob-
achtungen englischer Aerzte liegt, die er in den Canstatti-
schen Jahresberichten von 1842--45 veröffentlichte, geht un-
zweifelhaft auch daraus hervor, dass noch in der 1854 durch
Scanzoni unverändert besorgten Ausgabe seiner klinischen
Vorträge die Thatsache, dass das Puerperalfieber auf die Praxis
eines Arztes oder einer Hebamme beschränkt bleibt, dadurch
erklärt wird, dass das eben die beschäftigsten Aerzte und
Hebammen sind, als ob es möglich wäre, in der Privatpraxis
so viele Wöchnerinnen gleichzeitig zu behandeln, dass selbst
mehrere Todesfälle nur Fälle von Selbstinfection sein könnten.
Wenn ein Arzt oder eine Hebamme z. B. in kurzer Zeit nur
4 Wöchnerinnen am Kindbettfieber verlieren, war es ihnen
möglich, in dieser Zeit 400 Wöchnerinnen in der Privatpraxis
zu behandeln?

In demselben Aufsatze, in welchem er es mir als grosses
Verdienst anrechnet, dass ich durch Verhütung der Infection
die Sterblichkeit auf der I. Gebärklinik verminderte, in dem-
selben Aufsatze sagt er, dass er keine Rücksicht nimmt, ob
seine Schüler aus der naheliegenden Todtenkammer kommen
oder nicht. Wenn Kiwisch es auch nicht gesagt hätte, dass er
auf diesen Umstand keine Rücksicht nimmt, so würden wir
es doch wissen, dass dem so sei, denn eine 26 % Sterblichkeit
kann sich nur in einem solchen Gebärhause ereignen, in wel-
chem keine Rücksicht genommen wird, ob die Untersuchenden
aus der Todtenkammer kommen oder nicht.

Wie spurlos die Beobachtungen englischer Aerzte an
Kiwisch vorübergegangen, geht auch daraus hervor, dass in
seinen 1854 erschienenen klinischen Vorträgen das Kindbett-

26 % und sagt dennoch, dass er häufig nach Sectionen von an
septischem Puerperalfieber Verstorbenen zu Entbindungen
ging, ohne in einem einzigen Falle einen Nachtheil beobachtet
zu haben. An Nachtheilen hat es nicht gefehlt, wie die 26 %
Sterblichkeit beweiset, aber an der Fähigkeit den Nachtheil
zu erkennen, hat es gefehlt. Und dass Kiwisch keine Ahnung
hatte von der heilbringenden Wahrheit, welche in den Beob-
achtungen englischer Aerzte liegt, die er in den Canstatti-
schen Jahresberichten von 1842—45 veröffentlichte, geht un-
zweifelhaft auch daraus hervor, dass noch in der 1854 durch
Scanzoni unverändert besorgten Ausgabe seiner klinischen
Vorträge die Thatsache, dass das Puerperalfieber auf die Praxis
eines Arztes oder einer Hebamme beschränkt bleibt, dadurch
erklärt wird, dass das eben die beschäftigsten Aerzte und
Hebammen sind, als ob es möglich wäre, in der Privatpraxis
so viele Wöchnerinnen gleichzeitig zu behandeln, dass selbst
mehrere Todesfälle nur Fälle von Selbstinfection sein könnten.
Wenn ein Arzt oder eine Hebamme z. B. in kurzer Zeit nur
4 Wöchnerinnen am Kindbettfieber verlieren, war es ihnen
möglich, in dieser Zeit 400 Wöchnerinnen in der Privatpraxis
zu behandeln?

In demselben Aufsatze, in welchem er es mir als grosses
Verdienst anrechnet, dass ich durch Verhütung der Infection
die Sterblichkeit auf der I. Gebärklinik verminderte, in dem-
selben Aufsatze sagt er, dass er keine Rücksicht nimmt, ob
seine Schüler aus der naheliegenden Todtenkammer kommen
oder nicht. Wenn Kiwisch es auch nicht gesagt hätte, dass er
auf diesen Umstand keine Rücksicht nimmt, so würden wir
es doch wissen, dass dem so sei, denn eine 26 % Sterblichkeit
kann sich nur in einem solchen Gebärhause ereignen, in wel-
chem keine Rücksicht genommen wird, ob die Untersuchenden
aus der Todtenkammer kommen oder nicht.

Wie spurlos die Beobachtungen englischer Aerzte an
Kiwisch vorübergegangen, geht auch daraus hervor, dass in
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[432/0444] 26 % und sagt dennoch, dass er häufig nach Sectionen von an septischem Puerperalfieber Verstorbenen zu Entbindungen ging, ohne in einem einzigen Falle einen Nachtheil beobachtet zu haben. An Nachtheilen hat es nicht gefehlt, wie die 26 % Sterblichkeit beweiset, aber an der Fähigkeit den Nachtheil zu erkennen, hat es gefehlt. Und dass Kiwisch keine Ahnung hatte von der heilbringenden Wahrheit, welche in den Beob- achtungen englischer Aerzte liegt, die er in den Canstatti- schen Jahresberichten von 1842—45 veröffentlichte, geht un- zweifelhaft auch daraus hervor, dass noch in der 1854 durch Scanzoni unverändert besorgten Ausgabe seiner klinischen Vorträge die Thatsache, dass das Puerperalfieber auf die Praxis eines Arztes oder einer Hebamme beschränkt bleibt, dadurch erklärt wird, dass das eben die beschäftigsten Aerzte und Hebammen sind, als ob es möglich wäre, in der Privatpraxis so viele Wöchnerinnen gleichzeitig zu behandeln, dass selbst mehrere Todesfälle nur Fälle von Selbstinfection sein könnten. Wenn ein Arzt oder eine Hebamme z. B. in kurzer Zeit nur 4 Wöchnerinnen am Kindbettfieber verlieren, war es ihnen möglich, in dieser Zeit 400 Wöchnerinnen in der Privatpraxis zu behandeln? In demselben Aufsatze, in welchem er es mir als grosses Verdienst anrechnet, dass ich durch Verhütung der Infection die Sterblichkeit auf der I. Gebärklinik verminderte, in dem- selben Aufsatze sagt er, dass er keine Rücksicht nimmt, ob seine Schüler aus der naheliegenden Todtenkammer kommen oder nicht. Wenn Kiwisch es auch nicht gesagt hätte, dass er auf diesen Umstand keine Rücksicht nimmt, so würden wir es doch wissen, dass dem so sei, denn eine 26 % Sterblichkeit kann sich nur in einem solchen Gebärhause ereignen, in wel- chem keine Rücksicht genommen wird, ob die Untersuchenden aus der Todtenkammer kommen oder nicht. Wie spurlos die Beobachtungen englischer Aerzte an Kiwisch vorübergegangen, geht auch daraus hervor, dass in seinen 1854 erschienenen klinischen Vorträgen das Kindbett-

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Zitationshilfe: Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/444>, abgerufen am 11.05.2024.