Von der Individualität sagt Scanzoni Folgendes: "Während des Herrschens einer Epidemie komme die durch die Indivi- dualität bedingte Krankheitsanlage weniger in Betracht, wäh- rend einer Epidemie schütze kein Alter, keine Körperconsti- tution, keine Art von Lebensverhältnissen, und sehr häufig erkranken gerade die gesündesten, jüngsten, kräftigsten und blühendsten Frauen an dieser bösartigen, heimtückischen und mörderischen Krankheit."
Der aufmerksame Leser dieser Schrift weiss, dass das Wesen einer Puerperalfieber-Epidemie darin bestehe, dass vie- len Individuen ein zersetzter Stoff auf eine oder die andere Weise von aussen eingebracht werde, und ein zersetzter Stoff ist ein so furchtbares Gift, dass davor allerdings keine Indi- vidualität Schutz gewähren kann.
Ausser einer Epidemie aber, meint Scanzoni, erkranken leichter an Puerperalfieber schwächliche, schlecht genährte, während der Schwangerschaft dem Elende und der Noth aus- gesetzte und unter dem Einflusse deprimirender Gemüthsaffecte lebende Frauen; wir sind der Ueberzeugung, dass durch alle diese Umstände den Individuen weder von Aussen ein zersetzter Stoff eingebracht wird, noch entsteht in Folge die- ser Umstände ein zersetzter Stoff in den Individuen, diese Umstände sind daher keine aetiologischen Momente des Kind- bettfiebers. Auf wie viele von den im Jahre 1848 an der I. Gebärklinik verpflegten 3556 Wöchnerinnen passte diese Beschreibung Scanzoni's, und doch haben wir nur 45 Wöch- nerinnen am Puerperalfieber verloren.
Im Wiener Gebärhause wurden während der 25 Jahre, wo nicht Eine von 100 Wöchnerinnen starb, 44.838 Individuen verpflegt, davon starben 273, in den vier Londoner und den zwei Dubliner Gebärhäusern starb während 19 Jahre von 4558 Wöchnerinnen keine, und während 105 Jahre starben von 109.656 verpflegten Individuen 726. Wie ungeheuer mag die Zahl derjenigen unter diesen 159.052 Individuen gewesen sein, auf welche die Beschreibung Scanzoni's passt, und
Semmelweis, Kindbettfieber. 24
Von der Individualität sagt Scanzoni Folgendes: „Während des Herrschens einer Epidemie komme die durch die Indivi- dualität bedingte Krankheitsanlage weniger in Betracht, wäh- rend einer Epidemie schütze kein Alter, keine Körperconsti- tution, keine Art von Lebensverhältnissen, und sehr häufig erkranken gerade die gesündesten, jüngsten, kräftigsten und blühendsten Frauen an dieser bösartigen, heimtückischen und mörderischen Krankheit.“
Der aufmerksame Leser dieser Schrift weiss, dass das Wesen einer Puerperalfieber-Epidemie darin bestehe, dass vie- len Individuen ein zersetzter Stoff auf eine oder die andere Weise von aussen eingebracht werde, und ein zersetzter Stoff ist ein so furchtbares Gift, dass davor allerdings keine Indi- vidualität Schutz gewähren kann.
Ausser einer Epidemie aber, meint Scanzoni, erkranken leichter an Puerperalfieber schwächliche, schlecht genährte, während der Schwangerschaft dem Elende und der Noth aus- gesetzte und unter dem Einflusse deprimirender Gemüthsaffecte lebende Frauen; wir sind der Ueberzeugung, dass durch alle diese Umstände den Individuen weder von Aussen ein zersetzter Stoff eingebracht wird, noch entsteht in Folge die- ser Umstände ein zersetzter Stoff in den Individuen, diese Umstände sind daher keine aetiologischen Momente des Kind- bettfiebers. Auf wie viele von den im Jahre 1848 an der I. Gebärklinik verpflegten 3556 Wöchnerinnen passte diese Beschreibung Scanzoni’s, und doch haben wir nur 45 Wöch- nerinnen am Puerperalfieber verloren.
Im Wiener Gebärhause wurden während der 25 Jahre, wo nicht Eine von 100 Wöchnerinnen starb, 44.838 Individuen verpflegt, davon starben 273, in den vier Londoner und den zwei Dubliner Gebärhäusern starb während 19 Jahre von 4558 Wöchnerinnen keine, und während 105 Jahre starben von 109.656 verpflegten Individuen 726. Wie ungeheuer mag die Zahl derjenigen unter diesen 159.052 Individuen gewesen sein, auf welche die Beschreibung Scanzoni’s passt, und
Semmelweis, Kindbettfieber. 24
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Von der Individualität sagt Scanzoni Folgendes: „Während
des Herrschens einer Epidemie komme die durch die Indivi-
dualität bedingte Krankheitsanlage weniger in Betracht, wäh-
rend einer Epidemie schütze kein Alter, keine Körperconsti-
tution, keine Art von Lebensverhältnissen, und sehr häufig
erkranken gerade die gesündesten, jüngsten, kräftigsten und
blühendsten Frauen an dieser bösartigen, heimtückischen und
mörderischen Krankheit.“
Der aufmerksame Leser dieser Schrift weiss, dass das
Wesen einer Puerperalfieber-Epidemie darin bestehe, dass vie-
len Individuen ein zersetzter Stoff auf eine oder die andere
Weise von aussen eingebracht werde, und ein zersetzter Stoff
ist ein so furchtbares Gift, dass davor allerdings keine Indi-
vidualität Schutz gewähren kann.
Ausser einer Epidemie aber, meint Scanzoni, erkranken
leichter an Puerperalfieber schwächliche, schlecht genährte,
während der Schwangerschaft dem Elende und der Noth aus-
gesetzte und unter dem Einflusse deprimirender Gemüthsaffecte
lebende Frauen; wir sind der Ueberzeugung, dass durch
alle diese Umstände den Individuen weder von Aussen ein
zersetzter Stoff eingebracht wird, noch entsteht in Folge die-
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I. Gebärklinik verpflegten 3556 Wöchnerinnen passte diese
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nerinnen am Puerperalfieber verloren.
Im Wiener Gebärhause wurden während der 25 Jahre, wo
nicht Eine von 100 Wöchnerinnen starb, 44.838 Individuen
verpflegt, davon starben 273, in den vier Londoner und den
zwei Dubliner Gebärhäusern starb während 19 Jahre von
4558 Wöchnerinnen keine, und während 105 Jahre starben
von 109.656 verpflegten Individuen 726. Wie ungeheuer mag
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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/381>, abgerufen am 22.11.2024.
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