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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Tochter". -- Eine andere Unterscheidung ist durch die Begriffe pse_081.002
Genie, Talent und Dilettant angedeutet. Vielleicht könnte man pse_081.003
sie so umschreiben: höchste Entfaltung und Harmonie aller pse_081.004
künstlerischen Merkmale -- Gestaltungsfähigkeit übertrifft pse_081.005
inneren Reichtum und Ausdrucksdrang -- Ausdrucksdrang pse_081.006
und Gestaltungskraft sind nur schwach entwickelt. Mehr auf pse_081.007
das künstlerische Schaffen achtet folgende Scheidung (Walzel): pse_081.008
die einen Dichter betonen in ihrem Werk vor allem das pse_081.009
ruhende Sein, das Schaffen anderer ist gekennzeichnet durch pse_081.010
Rauschhaftigkeit und Lebenssteigerung, andere endlich gestalten pse_081.011
ruhiges Wachsen und Werden. Eine sehr tiefgreifende pse_081.012
und weitblickende Typologie verdanken wir jetzt Walter pse_081.013
Muschg (Tragische Literaturgeschichte). Gewonnen hat er sie pse_081.014
nicht aus Spekulation und Deduktion, sondern aus geschichtlicher pse_081.015
Rundsicht. In der Geschichte und im Leben entfalten pse_081.016
und verschlingen sich diese Urformen des Dichtertums in der pse_081.017
mannigfachsten Weise in den verschiedenen Räumen, Zeiten pse_081.018
und Gemeinschaften. Ausgangspunkt ist die Weihe, die ein pse_081.019
Dichter durch seine schöpferische Gabe empfängt. Sie zeigt pse_081.020
sich in drei Urformen. Der Dichter als Magier ist durch pse_081.021
Ekstase, durch den Durchbruch in höhere Bereiche, durch pse_081.022
Entrückung gekennzeichnet. Er kann so auch uns Menschen pse_081.023
entrücken. Shakespeare erscheint als Beispiel der ungeheuren pse_081.024
magischen Kraft des dichterischen Wortes. Dem Dichter als pse_081.025
Seher ist die unmittelbare Schau des Jenseitigen gegeben, ihm pse_081.026
kommt die Inspiration zu: die griechischen Tragiker, Dante, pse_081.027
Hölderlin. Den Dichter als Sänger treibt die Freude am Dasein: pse_081.028
"Ich singe wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet." pse_081.029
In der Entwicklung der Zivilisation verblassen die Urformen, pse_081.030
näherliegende Vorbilder und aktuelle Probleme drängen vor, pse_081.031
Entweihung setzt ein. Aber auch in dieser Entweihung sind pse_081.032
die großen Urformen -- abgewandelt -- noch erkennbar: aus pse_081.033
dem Magier wird der Gaukler, der mit seinem Können spielt. pse_081.034
Ein solcher Dichter steht immer vor dem Abgrund. Aus den pse_081.035
Sehern werden die Priester unter den Dichtern: die Psalmisten pse_081.036
oder Schiller. Und im Zeitalter des Literaturbetriebs wird aus pse_081.037
dem Sänger der Poet, der in allen Sätteln gerecht ist. Urformen pse_081.038
und geschichtliche Abwandlungen verquicken sich in

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Tochter«. — Eine andere Unterscheidung ist durch die Begriffe pse_081.002
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künstlerischen Merkmale — Gestaltungsfähigkeit übertrifft pse_081.005
inneren Reichtum und Ausdrucksdrang — Ausdrucksdrang pse_081.006
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das künstlerische Schaffen achtet folgende Scheidung (Walzel): pse_081.008
die einen Dichter betonen in ihrem Werk vor allem das pse_081.009
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ruhiges Wachsen und Werden. Eine sehr tiefgreifende pse_081.012
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Dichter durch seine schöpferische Gabe empfängt. Sie zeigt pse_081.020
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Seher ist die unmittelbare Schau des Jenseitigen gegeben, ihm pse_081.026
kommt die Inspiration zu: die griechischen Tragiker, Dante, pse_081.027
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»Ich singe wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet.« pse_081.029
In der Entwicklung der Zivilisation verblassen die Urformen, pse_081.030
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Ein solcher Dichter steht immer vor dem Abgrund. Aus den pse_081.035
Sehern werden die Priester unter den Dichtern: die Psalmisten pse_081.036
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/97>, abgerufen am 07.05.2024.