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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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DIE VERWESENTLICHUNG

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Eine Dichtung ist wie jedes Kunstwerk als ein abhebbarer pse_071.004
Gegenstand ein Stück Realität. Sie baut auf Wirklichkeit auf, pse_071.005
gestaltet aber, von ihr ausgehend, auf ihre Weise und mit pse_071.006
ihren Mitteln für den Betrachtenden eine neue Welt, die für pse_071.007
sich besteht. Diese Welt der Dichtung weist nun ein neues pse_071.008
Merkmal auf. Wir wollen es an Mörikes "Septembermorgen" pse_071.009
erkennen:

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Im Nebel ruhet noch die Welt, pse_071.011
Noch träumen Wald und Wiesen. pse_071.012
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, pse_071.013
Den blauen Himmel unverstellt, pse_071.014
Herbstkräftig die gedämpfte Welt pse_071.015
In warmem Golde fließen.
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Gewiß bauen diese Verse auf der außersprachlichen Wirklichkeit pse_071.017
auf. Am sinnfälligsten: wir müssen die Worte verstehen, pse_071.018
und das können wir nur, wenn wir sie mit einmal erfahrenen pse_071.019
Wirklichkeitsstücken in Beziehung bringen. Aber in diesem pse_071.020
Gedicht ersteht eine Wirklichkeit für sich. Sie baut sich auf pse_071.021
aus dem reichen Gehalt der Worte, in dem auch Gefühle pse_071.022
lebendig werden; im Zusammenwirken der Worte: man pse_071.023
beachte besonders die beiden letzten Verse; aus dem Reichtum pse_071.024
der Klänge, besonders der abwechslungsreichen Vokale, pse_071.025
im Klang der Konsonanten, etwa deutlich im letzten Vers; pse_071.026
endlich im Rhythmus. Die Welt, die hier ersteht, knüpft als pse_071.027
solche nicht an einen bestimmten Herbstmorgen an, sondern pse_071.028
es wächst aus dem sprachlichen Gefüge, in dem alle eben erwähnten pse_071.029
Kräfte und noch mehr zusammenwirken, ein Gebilde pse_071.030
auf, in dem uns der Zauber, das Ergreifende, die Fülle pse_071.031
und die Schönheit eines Herbstmorgens überhaupt erscheinen, pse_071.032
und zwar nicht in Realitätsstücken, sondern in der pse_071.033
Sprache, die in ihrem Sein Außen- und Innenwelt vereint. pse_071.034
Es erscheint dem Menschen in dem nur ihm eigenen Gebilde, pse_071.035
also für ihn, gleichsam das Wesen des Herbstes in bestimmter

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DIE VERWESENTLICHUNG

pse_071.003
Eine Dichtung ist wie jedes Kunstwerk als ein abhebbarer pse_071.004
Gegenstand ein Stück Realität. Sie baut auf Wirklichkeit auf, pse_071.005
gestaltet aber, von ihr ausgehend, auf ihre Weise und mit pse_071.006
ihren Mitteln für den Betrachtenden eine neue Welt, die für pse_071.007
sich besteht. Diese Welt der Dichtung weist nun ein neues pse_071.008
Merkmal auf. Wir wollen es an Mörikes »Septembermorgen« pse_071.009
erkennen:

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Im Nebel ruhet noch die Welt, pse_071.011
Noch träumen Wald und Wiesen. pse_071.012
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, pse_071.013
Den blauen Himmel unverstellt, pse_071.014
Herbstkräftig die gedämpfte Welt pse_071.015
In warmem Golde fließen.
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Gewiß bauen diese Verse auf der außersprachlichen Wirklichkeit pse_071.017
auf. Am sinnfälligsten: wir müssen die Worte verstehen, pse_071.018
und das können wir nur, wenn wir sie mit einmal erfahrenen pse_071.019
Wirklichkeitsstücken in Beziehung bringen. Aber in diesem pse_071.020
Gedicht ersteht eine Wirklichkeit für sich. Sie baut sich auf pse_071.021
aus dem reichen Gehalt der Worte, in dem auch Gefühle pse_071.022
lebendig werden; im Zusammenwirken der Worte: man pse_071.023
beachte besonders die beiden letzten Verse; aus dem Reichtum pse_071.024
der Klänge, besonders der abwechslungsreichen Vokale, pse_071.025
im Klang der Konsonanten, etwa deutlich im letzten Vers; pse_071.026
endlich im Rhythmus. Die Welt, die hier ersteht, knüpft als pse_071.027
solche nicht an einen bestimmten Herbstmorgen an, sondern pse_071.028
es wächst aus dem sprachlichen Gefüge, in dem alle eben erwähnten pse_071.029
Kräfte und noch mehr zusammenwirken, ein Gebilde pse_071.030
auf, in dem uns der Zauber, das Ergreifende, die Fülle pse_071.031
und die Schönheit eines Herbstmorgens überhaupt erscheinen, pse_071.032
und zwar nicht in Realitätsstücken, sondern in der pse_071.033
Sprache, die in ihrem Sein Außen- und Innenwelt vereint. pse_071.034
Es erscheint dem Menschen in dem nur ihm eigenen Gebilde, pse_071.035
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/87>, abgerufen am 24.11.2024.