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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Gruppen, Gesellschaften und Parteien der verschiedensten pse_674.002
Art setzen die Dichtung mannigfaltig für ihre Feiern ein. Repräsentativer pse_674.003
sind dann schon die Feiern des Staates im pse_674.004
weiteren Sinn: Nationale Gedenktage, Sieges- und Totenfeiern pse_674.005
usw. Immer wieder ist es dabei möglich, daß solche pse_674.006
Feiern, die ja selbst schon durchaus in den Bereich der Kunstgestaltung pse_674.007
aufsteigen können, Dichtungen den fördernden pse_674.008
Stimmungsuntergrund geben, auf dem sie erst voll wirken. pse_674.009
Das ist sicher gerade auch für Schillers "Tell" der Fall. Auch pse_674.010
die Feiern der Kirchengemeinschaften bedienen sich mannigfaltig pse_674.011
der Dichtung. Kirchliches Leben ist zu einem sehr wesentlichen pse_674.012
Teil Feiergestaltung: Herausheben des Menschen pse_674.013
aus dem Alltag zur Besinnung und Anregung. So im Ablauf pse_674.014
des Jahres, aber auch in der sich wiederholenden Liturgie des pse_674.015
Gottesdienstes. Er hat geradezu auch zu dichterischen Kunstwerken pse_674.016
angeregt. Man denke an die reiche kirchliche Hymnendichtung pse_674.017
des Mittelalters, an das Kirchenlied, aber auch pse_674.018
die ersten Formen des kirchlichen Spieles waren feiernde Erweiterungen pse_674.019
des Gottesdienstes. Besonders eigenartig ist die pse_674.020
Entwicklung der Sequenzendichtung im frühen Mittelalter. pse_674.021
Denn die Sequenz ist aus der Alleluja-Melodie der Liturgie pse_674.022
entstanden: der langen Modulation des letzten a wurde ein pse_674.023
Text geistlichen Gehalts unterlegt; aus dieser Gepflogenheit pse_674.024
entwickelte sich zuerst die sogenannte Sequenzendichtung, pse_674.025
endlich daraus das, was man heute Hymnik nennen würde. pse_674.026
Also: Feiergestaltung als Anregung für die Ausbildung neuer pse_674.027
Dichtformen. Daß solche Anregungen immer wieder möglich pse_674.028
sind, sieht man auch an Gedichten unserer Großen: die pse_674.029
feierlichen Prologe, manches kleine Festspiel, aber etwa auch pse_674.030
Goethes "Epilog zu Schillers Glocke" entspringen Anregungen pse_674.031
der Feiergestaltung.

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So erscheint uns also die "Verwendung" der Dichtung in pse_674.033
der Feier nicht als eine Entwürdigung, ein Mißbrauch -- pse_674.034
das kann wohl mitunter fließen -- sondern einerseits als eine pse_674.035
Möglichkeit, der Dichtung einen würdevollen Rahmen zu pse_674.036
schaffen, andererseits als Antrieb für neue Dichtungen, vielfach pse_674.037
Gelegenheitsdichtungen, aber im besten Sinn des Wortes. pse_674.038
Auch so ist also Dichtung mannigfach ins Leben verflochten.

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Text geistlichen Gehalts unterlegt; aus dieser Gepflogenheit pse_674.024
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Goethes »Epilog zu Schillers Glocke« entspringen Anregungen pse_674.031
der Feiergestaltung.

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So erscheint uns also die »Verwendung« der Dichtung in pse_674.033
der Feier nicht als eine Entwürdigung, ein Mißbrauch — pse_674.034
das kann wohl mitunter fließen — sondern einerseits als eine pse_674.035
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 674. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/690>, abgerufen am 18.05.2024.