Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_663.001
macht sie im Rahmen dieses Ganzen zu neuen, echten ästhetischen pse_663.002
Gebilden, indem er sie durchsichtig werden läßt für pse_663.003
Tieferes, für die Hintergründe: in ihnen enthüllt sich uns pse_663.004
das Wesentliche, die Wahrheit. So kann der Dichter Zeitgebundenes pse_663.005
des allzu Einmaligen entkleiden und damit zum pse_663.006
Bild von Wesenhaftem machen. Er bewahrt aber das Zeitbedingte pse_663.007
zugleich in einem höheren Sinn auf, macht es pse_663.008
menschlich fruchtbar für spätere Zeiten.

pse_663.009
Damit stoßen wir wieder auf die Frage der Wertung. Gewiß pse_663.010
bemüht sich jede tiefere Wertung, das Absolute herauszustellen. pse_663.011
In der allgemeinen Angabe, der Wert der Dichtung pse_663.012
werde durch das bestimmt, was der Dichter aus dem ihm pse_663.013
Zufließenden macht, ob es ihm gelingt, daraus das reine, pse_663.014
schlackenlose, erhellende Kunstwerk zu formen, sind sich pse_663.015
alle Einsichtigen einig, man kann diesem Satz allgemeine pse_663.016
Gültigkeit zusprechen. Trotzdem stoßen wir auch hier auf pse_663.017
menschliche Grenzen. Sie bestehen darin, daß wir immer nur pse_663.018
aus unserer geschichtlichen Bedingtheit heraus werten können. pse_663.019
Wir haben immer gefärbte Brillen auf, das ist die geschichtliche pse_663.020
Welt, die auch in uns sich auswirkt. Denn worin pse_663.021
das besteht, was der Dichter aus dem ihm Zufließenden gemacht pse_663.022
hat, werden verschiedene Zeiten und auch Räume pse_663.023
anders beurteilen. Es ist kaum dasselbe, worin die Menschen pse_663.024
des Mittelalters das Wesentliche in Gottfrieds "Tristan" gesehen pse_663.025
haben und worin wir es sehen. Das gilt auch für die formalen pse_663.026
Bestimmungen, eine Dichtung müsse schön und echt pse_663.027
usw. sein. Denn auch diese Wortgehalte ändern sich. Daraus pse_663.028
ergibt sich: 1. Dichtungen werden immer nur aus Zeitlagen pse_663.029
heraus gewertet. Aber je mehr sie in jeder solchen zeitgebundenen pse_663.030
Wertung als hohe Werke bestehen, indem sie also pse_663.031
von jeder Sicht her bestehen, desto mehr nähern wir uns in pse_663.032
zusammenfassender Schau dem wahren Wert und Wesen pse_663.033
eines solchen Werks und desto eindeutiger ersteht sein Ewigkeitswert. pse_663.034
2. Man kann die Fähigkeit schulen, in das Wesen pse_663.035
und den Wert von Kunstwerken einzudringen und damit pse_663.036
dieses Wesen und diesen Wert zu erfassen. 3. Aus diesen pse_663.037
Grenzen ergibt sich auch eine wissenschaftliche Möglichkeit: pse_663.038
man kann erforschen und erkennen, wie andere Zeiten und

pse_663.001
macht sie im Rahmen dieses Ganzen zu neuen, echten ästhetischen pse_663.002
Gebilden, indem er sie durchsichtig werden läßt für pse_663.003
Tieferes, für die Hintergründe: in ihnen enthüllt sich uns pse_663.004
das Wesentliche, die Wahrheit. So kann der Dichter Zeitgebundenes pse_663.005
des allzu Einmaligen entkleiden und damit zum pse_663.006
Bild von Wesenhaftem machen. Er bewahrt aber das Zeitbedingte pse_663.007
zugleich in einem höheren Sinn auf, macht es pse_663.008
menschlich fruchtbar für spätere Zeiten.

pse_663.009
Damit stoßen wir wieder auf die Frage der Wertung. Gewiß pse_663.010
bemüht sich jede tiefere Wertung, das Absolute herauszustellen. pse_663.011
In der allgemeinen Angabe, der Wert der Dichtung pse_663.012
werde durch das bestimmt, was der Dichter aus dem ihm pse_663.013
Zufließenden macht, ob es ihm gelingt, daraus das reine, pse_663.014
schlackenlose, erhellende Kunstwerk zu formen, sind sich pse_663.015
alle Einsichtigen einig, man kann diesem Satz allgemeine pse_663.016
Gültigkeit zusprechen. Trotzdem stoßen wir auch hier auf pse_663.017
menschliche Grenzen. Sie bestehen darin, daß wir immer nur pse_663.018
aus unserer geschichtlichen Bedingtheit heraus werten können. pse_663.019
Wir haben immer gefärbte Brillen auf, das ist die geschichtliche pse_663.020
Welt, die auch in uns sich auswirkt. Denn worin pse_663.021
das besteht, was der Dichter aus dem ihm Zufließenden gemacht pse_663.022
hat, werden verschiedene Zeiten und auch Räume pse_663.023
anders beurteilen. Es ist kaum dasselbe, worin die Menschen pse_663.024
des Mittelalters das Wesentliche in Gottfrieds »Tristan« gesehen pse_663.025
haben und worin wir es sehen. Das gilt auch für die formalen pse_663.026
Bestimmungen, eine Dichtung müsse schön und echt pse_663.027
usw. sein. Denn auch diese Wortgehalte ändern sich. Daraus pse_663.028
ergibt sich: 1. Dichtungen werden immer nur aus Zeitlagen pse_663.029
heraus gewertet. Aber je mehr sie in jeder solchen zeitgebundenen pse_663.030
Wertung als hohe Werke bestehen, indem sie also pse_663.031
von jeder Sicht her bestehen, desto mehr nähern wir uns in pse_663.032
zusammenfassender Schau dem wahren Wert und Wesen pse_663.033
eines solchen Werks und desto eindeutiger ersteht sein Ewigkeitswert. pse_663.034
2. Man kann die Fähigkeit schulen, in das Wesen pse_663.035
und den Wert von Kunstwerken einzudringen und damit pse_663.036
dieses Wesen und diesen Wert zu erfassen. 3. Aus diesen pse_663.037
Grenzen ergibt sich auch eine wissenschaftliche Möglichkeit: pse_663.038
man kann erforschen und erkennen, wie andere Zeiten und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0679" n="663"/><lb n="pse_663.001"/>
macht sie im Rahmen dieses Ganzen zu neuen, echten ästhetischen <lb n="pse_663.002"/>
Gebilden, indem er sie durchsichtig werden läßt für <lb n="pse_663.003"/>
Tieferes, für die Hintergründe: in ihnen enthüllt sich uns <lb n="pse_663.004"/>
das Wesentliche, die Wahrheit. So kann der Dichter Zeitgebundenes <lb n="pse_663.005"/>
des allzu Einmaligen entkleiden und damit zum <lb n="pse_663.006"/>
Bild von Wesenhaftem machen. Er bewahrt aber das Zeitbedingte <lb n="pse_663.007"/>
zugleich in einem höheren Sinn auf, macht es <lb n="pse_663.008"/>
menschlich fruchtbar für spätere Zeiten.</p>
            <p><lb n="pse_663.009"/>
Damit stoßen wir wieder auf die Frage der Wertung. Gewiß <lb n="pse_663.010"/>
bemüht sich jede tiefere Wertung, das Absolute herauszustellen. <lb n="pse_663.011"/>
In der allgemeinen Angabe, der Wert der Dichtung <lb n="pse_663.012"/>
werde durch das bestimmt, was der Dichter aus dem ihm <lb n="pse_663.013"/>
Zufließenden macht, ob es ihm gelingt, daraus das reine, <lb n="pse_663.014"/>
schlackenlose, erhellende Kunstwerk zu formen, sind sich <lb n="pse_663.015"/>
alle Einsichtigen einig, man kann diesem Satz allgemeine <lb n="pse_663.016"/>
Gültigkeit zusprechen. Trotzdem stoßen wir auch hier auf <lb n="pse_663.017"/>
menschliche Grenzen. Sie bestehen darin, daß wir immer nur <lb n="pse_663.018"/>
aus unserer geschichtlichen Bedingtheit heraus werten können. <lb n="pse_663.019"/>
Wir haben immer gefärbte Brillen auf, das ist die geschichtliche <lb n="pse_663.020"/>
Welt, die auch in uns sich auswirkt. Denn worin <lb n="pse_663.021"/>
das besteht, was der Dichter aus dem ihm Zufließenden gemacht <lb n="pse_663.022"/>
hat, werden verschiedene Zeiten und auch Räume <lb n="pse_663.023"/>
anders beurteilen. Es ist kaum dasselbe, worin die Menschen <lb n="pse_663.024"/>
des Mittelalters das Wesentliche in Gottfrieds »Tristan« gesehen <lb n="pse_663.025"/>
haben und worin wir es sehen. Das gilt auch für die formalen <lb n="pse_663.026"/>
Bestimmungen, eine Dichtung müsse schön und echt <lb n="pse_663.027"/>
usw. sein. Denn auch diese Wortgehalte ändern sich. Daraus <lb n="pse_663.028"/>
ergibt sich: 1. Dichtungen werden immer nur aus Zeitlagen <lb n="pse_663.029"/>
heraus gewertet. Aber je mehr sie in jeder solchen zeitgebundenen <lb n="pse_663.030"/>
Wertung als hohe Werke bestehen, indem sie also <lb n="pse_663.031"/>
von jeder Sicht her bestehen, desto mehr nähern wir uns in <lb n="pse_663.032"/>
zusammenfassender Schau dem wahren Wert und Wesen <lb n="pse_663.033"/>
eines solchen Werks und desto eindeutiger ersteht sein Ewigkeitswert. <lb n="pse_663.034"/>
2. Man kann die Fähigkeit schulen, in das Wesen <lb n="pse_663.035"/>
und den Wert von Kunstwerken einzudringen und damit <lb n="pse_663.036"/>
dieses Wesen und diesen Wert zu erfassen. 3. Aus diesen <lb n="pse_663.037"/>
Grenzen ergibt sich auch eine wissenschaftliche Möglichkeit: <lb n="pse_663.038"/>
man kann erforschen und erkennen, wie andere Zeiten und
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[663/0679] pse_663.001 macht sie im Rahmen dieses Ganzen zu neuen, echten ästhetischen pse_663.002 Gebilden, indem er sie durchsichtig werden läßt für pse_663.003 Tieferes, für die Hintergründe: in ihnen enthüllt sich uns pse_663.004 das Wesentliche, die Wahrheit. So kann der Dichter Zeitgebundenes pse_663.005 des allzu Einmaligen entkleiden und damit zum pse_663.006 Bild von Wesenhaftem machen. Er bewahrt aber das Zeitbedingte pse_663.007 zugleich in einem höheren Sinn auf, macht es pse_663.008 menschlich fruchtbar für spätere Zeiten. pse_663.009 Damit stoßen wir wieder auf die Frage der Wertung. Gewiß pse_663.010 bemüht sich jede tiefere Wertung, das Absolute herauszustellen. pse_663.011 In der allgemeinen Angabe, der Wert der Dichtung pse_663.012 werde durch das bestimmt, was der Dichter aus dem ihm pse_663.013 Zufließenden macht, ob es ihm gelingt, daraus das reine, pse_663.014 schlackenlose, erhellende Kunstwerk zu formen, sind sich pse_663.015 alle Einsichtigen einig, man kann diesem Satz allgemeine pse_663.016 Gültigkeit zusprechen. Trotzdem stoßen wir auch hier auf pse_663.017 menschliche Grenzen. Sie bestehen darin, daß wir immer nur pse_663.018 aus unserer geschichtlichen Bedingtheit heraus werten können. pse_663.019 Wir haben immer gefärbte Brillen auf, das ist die geschichtliche pse_663.020 Welt, die auch in uns sich auswirkt. Denn worin pse_663.021 das besteht, was der Dichter aus dem ihm Zufließenden gemacht pse_663.022 hat, werden verschiedene Zeiten und auch Räume pse_663.023 anders beurteilen. Es ist kaum dasselbe, worin die Menschen pse_663.024 des Mittelalters das Wesentliche in Gottfrieds »Tristan« gesehen pse_663.025 haben und worin wir es sehen. Das gilt auch für die formalen pse_663.026 Bestimmungen, eine Dichtung müsse schön und echt pse_663.027 usw. sein. Denn auch diese Wortgehalte ändern sich. Daraus pse_663.028 ergibt sich: 1. Dichtungen werden immer nur aus Zeitlagen pse_663.029 heraus gewertet. Aber je mehr sie in jeder solchen zeitgebundenen pse_663.030 Wertung als hohe Werke bestehen, indem sie also pse_663.031 von jeder Sicht her bestehen, desto mehr nähern wir uns in pse_663.032 zusammenfassender Schau dem wahren Wert und Wesen pse_663.033 eines solchen Werks und desto eindeutiger ersteht sein Ewigkeitswert. pse_663.034 2. Man kann die Fähigkeit schulen, in das Wesen pse_663.035 und den Wert von Kunstwerken einzudringen und damit pse_663.036 dieses Wesen und diesen Wert zu erfassen. 3. Aus diesen pse_663.037 Grenzen ergibt sich auch eine wissenschaftliche Möglichkeit: pse_663.038 man kann erforschen und erkennen, wie andere Zeiten und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/679
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 663. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/679>, abgerufen am 28.11.2024.