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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Komödien, ebenso die Grabbes, gehören zur Art der pse_645.002
Intrigenkomödie. Der Vorgang kann sich in der Komödie pse_645.003
so erweitern, daß eine ganze Gesellschaft in die Komik hineingezogen pse_645.004
wird: ihre sittliche Haltung, die Lügenhaftigkeit pse_645.005
ihrer Gesellschaftsformen, die Verlogenheit ihrer moralischen pse_645.006
Grundsätze können durch die Handlung, die durch alle Bereiche pse_645.007
des Gesellschaftslebens führt, ad absurdum geführt, in pse_645.008
ihrer Scheinhaftigkeit bloßgestellt werden: die Gesellschaftskomödie.

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Die Art der Wirklichkeit, die eine Komödie aufbaut, ist pse_645.011
nicht immer dieselbe. Man spricht oft von einer realistischen pse_645.012
Komödie und meint damit, daß eine Wirklichkeit vor uns pse_645.013
ersteht, die aus dem menschlichen Alltagsleben geschöpft ist. pse_645.014
Aber die Komik entsteht erst durch die besondere Ausformung pse_645.015
dieser dichterischen Wirklichkeit: sie unterscheidet sich pse_645.016
von dem Alltagsleben durch die Verzerrung der Verhältnisse, pse_645.017
durch die Überbelichtung bestimmter Lagen und Vorgänge. pse_645.018
Gerade von solchen komischen Verdichtungen lebt die pse_645.019
Komödie, darin besteht ihre dichterische Wirklichkeit. Auch pse_645.020
so wird Wesenhaftes, genauer noch: Mögliches des menschlichen pse_645.021
Lebens gestaltet. Pseudorealistisch könnte man eine pse_645.022
solche Komödie wohl nur nennen, wenn man ihre dichterische pse_645.023
Wirklichkeit an dem Alltagsleben der Menschen vergleichend pse_645.024
mißt. Solcher Art sind vielfach die Possen, die Gesellschaftskomödien pse_645.025
und die Charakterkomödien. Die Übersteigerung pse_645.026
komischer Züge kann ins Groteske führen. Es gibt pse_645.027
einen Bereich, wo sich Komik und Groteske überschneiden. pse_645.028
Dabei darf man aber nicht vergessen, daß das Groteske ein pse_645.029
weiteres Gebiet umfaßt als bloß das Komische. Aber in der pse_645.030
Verfremdung der Wirklichkeitsbezüge, im willkürlichen pse_645.031
Montieren disparater Stücke, in der übertriebenen Verzerrung pse_645.032
kann das Groteske auch komisch wirken. Das Verrückte im pse_645.033
tatsächlichen Leben wird hier aufgegriffen, zu einer eigenen pse_645.034
dichterischen Welt ausgeformt, wo alles unerwartet ist und pse_645.035
aus der Art fällt. In der Lösung deutet sich eine Wiederherstellung pse_645.036
einer heilen Ordnung an, zumindest eine Bloßstellung pse_645.037
oder gar Vernichtung des Verzerrten. Freilich können in pse_645.038
solchen Komödien bereits dämonische Züge einfließen. Alle

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Komödien, ebenso die Grabbes, gehören zur Art der pse_645.002
Intrigenkomödie. Der Vorgang kann sich in der Komödie pse_645.003
so erweitern, daß eine ganze Gesellschaft in die Komik hineingezogen pse_645.004
wird: ihre sittliche Haltung, die Lügenhaftigkeit pse_645.005
ihrer Gesellschaftsformen, die Verlogenheit ihrer moralischen pse_645.006
Grundsätze können durch die Handlung, die durch alle Bereiche pse_645.007
des Gesellschaftslebens führt, ad absurdum geführt, in pse_645.008
ihrer Scheinhaftigkeit bloßgestellt werden: die Gesellschaftskomödie.

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Die Art der Wirklichkeit, die eine Komödie aufbaut, ist pse_645.011
nicht immer dieselbe. Man spricht oft von einer realistischen pse_645.012
Komödie und meint damit, daß eine Wirklichkeit vor uns pse_645.013
ersteht, die aus dem menschlichen Alltagsleben geschöpft ist. pse_645.014
Aber die Komik entsteht erst durch die besondere Ausformung pse_645.015
dieser dichterischen Wirklichkeit: sie unterscheidet sich pse_645.016
von dem Alltagsleben durch die Verzerrung der Verhältnisse, pse_645.017
durch die Überbelichtung bestimmter Lagen und Vorgänge. pse_645.018
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so wird Wesenhaftes, genauer noch: Mögliches des menschlichen pse_645.021
Lebens gestaltet. Pseudorealistisch könnte man eine pse_645.022
solche Komödie wohl nur nennen, wenn man ihre dichterische pse_645.023
Wirklichkeit an dem Alltagsleben der Menschen vergleichend pse_645.024
mißt. Solcher Art sind vielfach die Possen, die Gesellschaftskomödien pse_645.025
und die Charakterkomödien. Die Übersteigerung pse_645.026
komischer Züge kann ins Groteske führen. Es gibt pse_645.027
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Dabei darf man aber nicht vergessen, daß das Groteske ein pse_645.029
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Verfremdung der Wirklichkeitsbezüge, im willkürlichen pse_645.031
Montieren disparater Stücke, in der übertriebenen Verzerrung pse_645.032
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aus der Art fällt. In der Lösung deutet sich eine Wiederherstellung pse_645.036
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[645/0661] pse_645.001 Komödien, ebenso die Grabbes, gehören zur Art der pse_645.002 Intrigenkomödie. Der Vorgang kann sich in der Komödie pse_645.003 so erweitern, daß eine ganze Gesellschaft in die Komik hineingezogen pse_645.004 wird: ihre sittliche Haltung, die Lügenhaftigkeit pse_645.005 ihrer Gesellschaftsformen, die Verlogenheit ihrer moralischen pse_645.006 Grundsätze können durch die Handlung, die durch alle Bereiche pse_645.007 des Gesellschaftslebens führt, ad absurdum geführt, in pse_645.008 ihrer Scheinhaftigkeit bloßgestellt werden: die Gesellschaftskomödie. pse_645.009 pse_645.010 Die Art der Wirklichkeit, die eine Komödie aufbaut, ist pse_645.011 nicht immer dieselbe. Man spricht oft von einer realistischen pse_645.012 Komödie und meint damit, daß eine Wirklichkeit vor uns pse_645.013 ersteht, die aus dem menschlichen Alltagsleben geschöpft ist. pse_645.014 Aber die Komik entsteht erst durch die besondere Ausformung pse_645.015 dieser dichterischen Wirklichkeit: sie unterscheidet sich pse_645.016 von dem Alltagsleben durch die Verzerrung der Verhältnisse, pse_645.017 durch die Überbelichtung bestimmter Lagen und Vorgänge. pse_645.018 Gerade von solchen komischen Verdichtungen lebt die pse_645.019 Komödie, darin besteht ihre dichterische Wirklichkeit. Auch pse_645.020 so wird Wesenhaftes, genauer noch: Mögliches des menschlichen pse_645.021 Lebens gestaltet. Pseudorealistisch könnte man eine pse_645.022 solche Komödie wohl nur nennen, wenn man ihre dichterische pse_645.023 Wirklichkeit an dem Alltagsleben der Menschen vergleichend pse_645.024 mißt. Solcher Art sind vielfach die Possen, die Gesellschaftskomödien pse_645.025 und die Charakterkomödien. Die Übersteigerung pse_645.026 komischer Züge kann ins Groteske führen. Es gibt pse_645.027 einen Bereich, wo sich Komik und Groteske überschneiden. pse_645.028 Dabei darf man aber nicht vergessen, daß das Groteske ein pse_645.029 weiteres Gebiet umfaßt als bloß das Komische. Aber in der pse_645.030 Verfremdung der Wirklichkeitsbezüge, im willkürlichen pse_645.031 Montieren disparater Stücke, in der übertriebenen Verzerrung pse_645.032 kann das Groteske auch komisch wirken. Das Verrückte im pse_645.033 tatsächlichen Leben wird hier aufgegriffen, zu einer eigenen pse_645.034 dichterischen Welt ausgeformt, wo alles unerwartet ist und pse_645.035 aus der Art fällt. In der Lösung deutet sich eine Wiederherstellung pse_645.036 einer heilen Ordnung an, zumindest eine Bloßstellung pse_645.037 oder gar Vernichtung des Verzerrten. Freilich können in pse_645.038 solchen Komödien bereits dämonische Züge einfließen. Alle

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/661>, abgerufen am 18.05.2024.