pse_643.001 die Entlarvung des Scheins, damit die Auflösung pse_643.002 einer Täuschung. Gerade darin ist ein wichtiger Zug zu sehen: pse_643.003 zunächst scheint die Darstellung eine Wirklichkeit aufzubauen, pse_643.004 die im ästhetischen Sinn auf Wesentlicheres zu blicken pse_643.005 erlaubt. Freilich schon hier steigen Bedenken auf -- eine Ursache pse_643.006 dramatischer Gespanntheit. Am Schluß aber wird pse_643.007 endgültig dieser Schein des Tieferen zerstört, die Täuschung pse_643.008 aufgelöst. Und doch läßt auch ein solcher Vorgang auf das pse_643.009 echte Tiefere schauen, eröffnet uns den Blick in Möglichkeiten pse_643.010 des Lebens und der Welt, in wesenhafte Verhältnisse. pse_643.011 Damit zeigt sich uns die Komödie als hervorragend dramatisch. pse_643.012 Genau so wie in der Tragödie sind in ihr die dramatischen pse_643.013 Züge greifbar. Das braucht im einzelnen nicht mehr ausgeführt pse_643.014 zu werden. Sicher aber wird nirgends so sehr wie in pse_643.015 diesen beiden Arten die Urgespaltenheit der Welt ästhetische pse_643.016 Wirklichkeit. Nie geht das Weltbild in reiner Harmonie pse_643.017 auf -- sonst wäre weder Tragik noch Komik möglich. Beide pse_643.018 Arten sind eins in bezug auf diese Struktur der Welt, aber sie pse_643.019 stehen einander entgegen wie der positive und der negative pse_643.020 Pol: In der Tragödie die Erschütterung und aus tiefstem pse_643.021 Grunde die Erhebung, in der Komödie die gemüthafte Angespanntheit pse_643.022 wegen der Widersprüchlichkeit, dann die befreiende pse_643.023 Lösung, daß wenigstens vorläufig -- was ist schon pse_643.024 endgültig in dieser Welt! -- der Widerspruch beseitigt ist, pse_643.025 und zwar mit so drastischem Fall.
pse_643.026 Die Art und die Bedeutung der komischen Figur ist schon pse_643.027 umrissen worden. Der Dichter kann sie mannigfaltig ausgestalten. pse_643.028 Es kann eine scheinbare Nebenfigur sein, die dann in pse_643.029 ihrem Bezug zum Publikum, in ihrem Heraustreten aus dem pse_643.030 Vorgang eine Art Chor ist; sie unterstreicht dann das Komische pse_643.031 des Vorgangs, die Angemaßtheit der Hauptfigur. pse_643.032 Dabei wirkt sie durch ihr Gehaben und ihr Aussehen selbst pse_643.033 komisch -- ein derbes Herausbrechen aus dem Erwarteten, pse_643.034 auch schon dadurch, daß sie aus der Ordnung des geschlossenen pse_643.035 Vorgangs heraustritt. Die komische Figur kann aber auch pse_643.036 die Hauptgestalt sein, so besonders deutlich bei Moliere und pse_643.037 in Kleists Komödie. Dann tritt eine starke Verdichtung des pse_643.038 Komischen ein: denn nicht nur, daß sich ja in der Hauptgestalt
pse_643.001 die Entlarvung des Scheins, damit die Auflösung pse_643.002 einer Täuschung. Gerade darin ist ein wichtiger Zug zu sehen: pse_643.003 zunächst scheint die Darstellung eine Wirklichkeit aufzubauen, pse_643.004 die im ästhetischen Sinn auf Wesentlicheres zu blicken pse_643.005 erlaubt. Freilich schon hier steigen Bedenken auf — eine Ursache pse_643.006 dramatischer Gespanntheit. Am Schluß aber wird pse_643.007 endgültig dieser Schein des Tieferen zerstört, die Täuschung pse_643.008 aufgelöst. Und doch läßt auch ein solcher Vorgang auf das pse_643.009 echte Tiefere schauen, eröffnet uns den Blick in Möglichkeiten pse_643.010 des Lebens und der Welt, in wesenhafte Verhältnisse. pse_643.011 Damit zeigt sich uns die Komödie als hervorragend dramatisch. pse_643.012 Genau so wie in der Tragödie sind in ihr die dramatischen pse_643.013 Züge greifbar. Das braucht im einzelnen nicht mehr ausgeführt pse_643.014 zu werden. Sicher aber wird nirgends so sehr wie in pse_643.015 diesen beiden Arten die Urgespaltenheit der Welt ästhetische pse_643.016 Wirklichkeit. Nie geht das Weltbild in reiner Harmonie pse_643.017 auf — sonst wäre weder Tragik noch Komik möglich. Beide pse_643.018 Arten sind eins in bezug auf diese Struktur der Welt, aber sie pse_643.019 stehen einander entgegen wie der positive und der negative pse_643.020 Pol: In der Tragödie die Erschütterung und aus tiefstem pse_643.021 Grunde die Erhebung, in der Komödie die gemüthafte Angespanntheit pse_643.022 wegen der Widersprüchlichkeit, dann die befreiende pse_643.023 Lösung, daß wenigstens vorläufig — was ist schon pse_643.024 endgültig in dieser Welt! — der Widerspruch beseitigt ist, pse_643.025 und zwar mit so drastischem Fall.
pse_643.026 Die Art und die Bedeutung der komischen Figur ist schon pse_643.027 umrissen worden. Der Dichter kann sie mannigfaltig ausgestalten. pse_643.028 Es kann eine scheinbare Nebenfigur sein, die dann in pse_643.029 ihrem Bezug zum Publikum, in ihrem Heraustreten aus dem pse_643.030 Vorgang eine Art Chor ist; sie unterstreicht dann das Komische pse_643.031 des Vorgangs, die Angemaßtheit der Hauptfigur. pse_643.032 Dabei wirkt sie durch ihr Gehaben und ihr Aussehen selbst pse_643.033 komisch — ein derbes Herausbrechen aus dem Erwarteten, pse_643.034 auch schon dadurch, daß sie aus der Ordnung des geschlossenen pse_643.035 Vorgangs heraustritt. Die komische Figur kann aber auch pse_643.036 die Hauptgestalt sein, so besonders deutlich bei Molière und pse_643.037 in Kleists Komödie. Dann tritt eine starke Verdichtung des pse_643.038 Komischen ein: denn nicht nur, daß sich ja in der Hauptgestalt
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dramatischer Gespanntheit. Am Schluß aber wird pse_643.007
endgültig dieser Schein des Tieferen zerstört, die Täuschung pse_643.008
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 643. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/659>, abgerufen am 23.11.2024.
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