Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_607.001
Lösung alles Tragischen im Sinne Goethes in der pse_607.002
künstlerischen Form schon deutlich. Die künstlerischen pse_607.003
Möglichkeiten rahmenden Aufbaus lassen sich aus solchen pse_607.004
Beispielen ablesen. Es können dadurch zwei Welten, etwa pse_607.005
das Diesseits und das Jenseits, einander gegenübergestellt, also pse_607.006
doch auch im Rahmenbau das Dramatische herausgeformt pse_607.007
werden. Durch den Rahmen kann auch die Geschlossenheit pse_607.008
der Dichtung heraustreten. Der Rahmen kann auch Spannung pse_607.009
wecken. Das geschieht im vorderen Rahmenstück von Grillparzers pse_607.010
"Weh dem, der lügt!"; denn so wacht die erregte pse_607.011
Frage auf: wie wird Leon die Aufgabe lösen? Durch die pse_607.012
Rückkehr ins vordere Rahmenstück kann zugleich eine pse_607.013
Höherbewegung mit eingeformt werden, so vor allem in pse_607.014
Grillparzers "Traum ein Leben".

pse_607.015
Die Fülle der künstlerischen Möglichkeiten verdichtet pse_607.016
sich auch dadurch zur Ganzheit des Kunstwerks, daß sie alle pse_607.017
eben im ästhetischen Sinn durch ihr Dasein zugleich tiefer pse_607.018
schauen lassen, ein Weltbild dichterisch aufbauen. Alle Bilderwelt, pse_607.019
alle Personen, alle Handlung sind immer gleichsam pse_607.020
Vordergrund: durch sie wird ein Weltbild lebendig, allerdings pse_607.021
eines, das die Welt bis ins Innerste zerrissen und gespalten pse_607.022
zeigt. Der Dramatiker schafft also eine Art Mythos pse_607.023
durch seine künstlerischen Möglichkeiten, wenn wir unter pse_607.024
Mythos hier eine mit ästhetischen Kräften erwirkte Weltschau pse_607.025
verstehen, die uns zutiefst ergreifen kann. Diese Erhellung pse_607.026
der Tiefengründe, das Aufbrechen des Letzten im Drama, pse_607.027
hat natürlich verschiedene Grade. Possen, leichte Spiele, pse_607.028
Unterhaltungsstücke werden nie in solche Tiefen gehen, pse_607.029
wohl aber die großen Werke echter Kunst. So bieten sich pse_607.030
hier wieder Wertungsmöglichkeiten: je mehr die künstlerische pse_607.031
Durchformung auch Hintergründe erhellt, desto höher pse_607.032
im Rang steht ein solches Drama. Dazu kann auch schon der pse_607.033
Schluß mit seiner besonderen Wirkung beitragen. Denn gemäß pse_607.034
dem Wesen des Dramatischen wird er von entscheidenderer pse_607.035
Wirkung im Drama sein als in epischer Dichtung. Die pse_607.036
Erschütterung oder Befreiung, der Aufschwung und die Ergriffenheit, pse_607.037
die uns am Schluß überkommen, öffnen ja schon pse_607.038
Blicke in Abgründe oder Höhen. Aber auch der Ablauf des

pse_607.001
Lösung alles Tragischen im Sinne Goethes in der pse_607.002
künstlerischen Form schon deutlich. Die künstlerischen pse_607.003
Möglichkeiten rahmenden Aufbaus lassen sich aus solchen pse_607.004
Beispielen ablesen. Es können dadurch zwei Welten, etwa pse_607.005
das Diesseits und das Jenseits, einander gegenübergestellt, also pse_607.006
doch auch im Rahmenbau das Dramatische herausgeformt pse_607.007
werden. Durch den Rahmen kann auch die Geschlossenheit pse_607.008
der Dichtung heraustreten. Der Rahmen kann auch Spannung pse_607.009
wecken. Das geschieht im vorderen Rahmenstück von Grillparzers pse_607.010
»Weh dem, der lügt!«; denn so wacht die erregte pse_607.011
Frage auf: wie wird Leon die Aufgabe lösen? Durch die pse_607.012
Rückkehr ins vordere Rahmenstück kann zugleich eine pse_607.013
Höherbewegung mit eingeformt werden, so vor allem in pse_607.014
Grillparzers »Traum ein Leben«.

pse_607.015
Die Fülle der künstlerischen Möglichkeiten verdichtet pse_607.016
sich auch dadurch zur Ganzheit des Kunstwerks, daß sie alle pse_607.017
eben im ästhetischen Sinn durch ihr Dasein zugleich tiefer pse_607.018
schauen lassen, ein Weltbild dichterisch aufbauen. Alle Bilderwelt, pse_607.019
alle Personen, alle Handlung sind immer gleichsam pse_607.020
Vordergrund: durch sie wird ein Weltbild lebendig, allerdings pse_607.021
eines, das die Welt bis ins Innerste zerrissen und gespalten pse_607.022
zeigt. Der Dramatiker schafft also eine Art Mythos pse_607.023
durch seine künstlerischen Möglichkeiten, wenn wir unter pse_607.024
Mythos hier eine mit ästhetischen Kräften erwirkte Weltschau pse_607.025
verstehen, die uns zutiefst ergreifen kann. Diese Erhellung pse_607.026
der Tiefengründe, das Aufbrechen des Letzten im Drama, pse_607.027
hat natürlich verschiedene Grade. Possen, leichte Spiele, pse_607.028
Unterhaltungsstücke werden nie in solche Tiefen gehen, pse_607.029
wohl aber die großen Werke echter Kunst. So bieten sich pse_607.030
hier wieder Wertungsmöglichkeiten: je mehr die künstlerische pse_607.031
Durchformung auch Hintergründe erhellt, desto höher pse_607.032
im Rang steht ein solches Drama. Dazu kann auch schon der pse_607.033
Schluß mit seiner besonderen Wirkung beitragen. Denn gemäß pse_607.034
dem Wesen des Dramatischen wird er von entscheidenderer pse_607.035
Wirkung im Drama sein als in epischer Dichtung. Die pse_607.036
Erschütterung oder Befreiung, der Aufschwung und die Ergriffenheit, pse_607.037
die uns am Schluß überkommen, öffnen ja schon pse_607.038
Blicke in Abgründe oder Höhen. Aber auch der Ablauf des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0623" n="607"/><lb n="pse_607.001"/>
Lösung alles Tragischen im Sinne Goethes in der <lb n="pse_607.002"/>
künstlerischen Form schon deutlich. Die künstlerischen <lb n="pse_607.003"/>
Möglichkeiten rahmenden Aufbaus lassen sich aus solchen <lb n="pse_607.004"/>
Beispielen ablesen. Es können dadurch zwei Welten, etwa <lb n="pse_607.005"/>
das Diesseits und das Jenseits, einander gegenübergestellt, also <lb n="pse_607.006"/>
doch auch im Rahmenbau das Dramatische herausgeformt <lb n="pse_607.007"/>
werden. Durch den Rahmen kann auch die Geschlossenheit <lb n="pse_607.008"/>
der Dichtung heraustreten. Der Rahmen kann auch Spannung <lb n="pse_607.009"/>
wecken. Das geschieht im vorderen Rahmenstück von Grillparzers <lb n="pse_607.010"/>
»Weh dem, der lügt!«; denn so wacht die erregte <lb n="pse_607.011"/>
Frage auf: wie wird Leon die Aufgabe lösen? Durch die <lb n="pse_607.012"/>
Rückkehr ins vordere Rahmenstück kann zugleich eine <lb n="pse_607.013"/>
Höherbewegung mit eingeformt werden, so vor allem in <lb n="pse_607.014"/>
Grillparzers »Traum ein Leben«.</p>
              <p><lb n="pse_607.015"/>
Die Fülle der künstlerischen Möglichkeiten verdichtet <lb n="pse_607.016"/>
sich auch dadurch zur Ganzheit des Kunstwerks, daß sie alle <lb n="pse_607.017"/>
eben im ästhetischen Sinn durch ihr Dasein zugleich tiefer <lb n="pse_607.018"/>
schauen lassen, ein <hi rendition="#i">Weltbild</hi> dichterisch aufbauen. Alle Bilderwelt, <lb n="pse_607.019"/>
alle Personen, alle Handlung sind immer gleichsam <lb n="pse_607.020"/>
Vordergrund: durch sie wird ein Weltbild lebendig, allerdings <lb n="pse_607.021"/>
eines, das die Welt bis ins Innerste zerrissen und gespalten <lb n="pse_607.022"/>
zeigt. Der Dramatiker schafft also eine Art Mythos <lb n="pse_607.023"/>
durch seine künstlerischen Möglichkeiten, wenn wir unter <lb n="pse_607.024"/>
Mythos hier eine mit ästhetischen Kräften erwirkte Weltschau <lb n="pse_607.025"/>
verstehen, die uns zutiefst ergreifen kann. Diese Erhellung <lb n="pse_607.026"/>
der Tiefengründe, das Aufbrechen des Letzten im Drama, <lb n="pse_607.027"/>
hat natürlich verschiedene Grade. Possen, leichte Spiele, <lb n="pse_607.028"/>
Unterhaltungsstücke werden nie in solche Tiefen gehen, <lb n="pse_607.029"/>
wohl aber die großen Werke echter Kunst. So bieten sich <lb n="pse_607.030"/>
hier wieder Wertungsmöglichkeiten: je mehr die künstlerische <lb n="pse_607.031"/>
Durchformung auch Hintergründe erhellt, desto höher <lb n="pse_607.032"/>
im Rang steht ein solches Drama. Dazu kann auch schon der <lb n="pse_607.033"/>
Schluß mit seiner besonderen Wirkung beitragen. Denn gemäß <lb n="pse_607.034"/>
dem Wesen des Dramatischen wird er von entscheidenderer <lb n="pse_607.035"/>
Wirkung im Drama sein als in epischer Dichtung. Die <lb n="pse_607.036"/>
Erschütterung oder Befreiung, der Aufschwung und die Ergriffenheit, <lb n="pse_607.037"/>
die uns am Schluß überkommen, öffnen ja schon <lb n="pse_607.038"/>
Blicke in Abgründe oder Höhen. Aber auch der Ablauf des
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[607/0623] pse_607.001 Lösung alles Tragischen im Sinne Goethes in der pse_607.002 künstlerischen Form schon deutlich. Die künstlerischen pse_607.003 Möglichkeiten rahmenden Aufbaus lassen sich aus solchen pse_607.004 Beispielen ablesen. Es können dadurch zwei Welten, etwa pse_607.005 das Diesseits und das Jenseits, einander gegenübergestellt, also pse_607.006 doch auch im Rahmenbau das Dramatische herausgeformt pse_607.007 werden. Durch den Rahmen kann auch die Geschlossenheit pse_607.008 der Dichtung heraustreten. Der Rahmen kann auch Spannung pse_607.009 wecken. Das geschieht im vorderen Rahmenstück von Grillparzers pse_607.010 »Weh dem, der lügt!«; denn so wacht die erregte pse_607.011 Frage auf: wie wird Leon die Aufgabe lösen? Durch die pse_607.012 Rückkehr ins vordere Rahmenstück kann zugleich eine pse_607.013 Höherbewegung mit eingeformt werden, so vor allem in pse_607.014 Grillparzers »Traum ein Leben«. pse_607.015 Die Fülle der künstlerischen Möglichkeiten verdichtet pse_607.016 sich auch dadurch zur Ganzheit des Kunstwerks, daß sie alle pse_607.017 eben im ästhetischen Sinn durch ihr Dasein zugleich tiefer pse_607.018 schauen lassen, ein Weltbild dichterisch aufbauen. Alle Bilderwelt, pse_607.019 alle Personen, alle Handlung sind immer gleichsam pse_607.020 Vordergrund: durch sie wird ein Weltbild lebendig, allerdings pse_607.021 eines, das die Welt bis ins Innerste zerrissen und gespalten pse_607.022 zeigt. Der Dramatiker schafft also eine Art Mythos pse_607.023 durch seine künstlerischen Möglichkeiten, wenn wir unter pse_607.024 Mythos hier eine mit ästhetischen Kräften erwirkte Weltschau pse_607.025 verstehen, die uns zutiefst ergreifen kann. Diese Erhellung pse_607.026 der Tiefengründe, das Aufbrechen des Letzten im Drama, pse_607.027 hat natürlich verschiedene Grade. Possen, leichte Spiele, pse_607.028 Unterhaltungsstücke werden nie in solche Tiefen gehen, pse_607.029 wohl aber die großen Werke echter Kunst. So bieten sich pse_607.030 hier wieder Wertungsmöglichkeiten: je mehr die künstlerische pse_607.031 Durchformung auch Hintergründe erhellt, desto höher pse_607.032 im Rang steht ein solches Drama. Dazu kann auch schon der pse_607.033 Schluß mit seiner besonderen Wirkung beitragen. Denn gemäß pse_607.034 dem Wesen des Dramatischen wird er von entscheidenderer pse_607.035 Wirkung im Drama sein als in epischer Dichtung. Die pse_607.036 Erschütterung oder Befreiung, der Aufschwung und die Ergriffenheit, pse_607.037 die uns am Schluß überkommen, öffnen ja schon pse_607.038 Blicke in Abgründe oder Höhen. Aber auch der Ablauf des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/623
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/623>, abgerufen am 22.11.2024.