Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_585.001
Verwesentlichung erreicht. So ist Stoffausweitung möglich: pse_585.002
der Held greift in die Welt hinein wie Faust und Macbeth, pse_585.003
der immer weiter sein Ziel spannt und endlich spannen muß, pse_585.004
will er bestehen. Die Handlung des Bewegungsdramas kann pse_585.005
sich weiter auseinanderfalten als die des Einortdramas: durch pse_585.006
Schichtenbildungen, Verzweigungen wie die Gegenhandlung pse_585.007
in Grillparzers "Bruderzwist" oder Verschachtelungen wie im pse_585.008
"Kaufmann von Venedig". Oder sie wird reich durch Parallelhandlungen pse_585.009
wie die Glosterhandlung im "Lear", durch Gleichnishandlungen pse_585.010
oder dadurch, daß die Person in verschiedene pse_585.011
Daseinsstufen gezwungen wird wie Sigismund in Calderons pse_585.012
"Leben ist Traum" oder in Hofmannsthals "Turm". Das Bewegungsdrama pse_585.013
läßt sich in seinem Aufbau aus den Normen pse_585.014
des Einortdramas nicht verstehen und muß so als regelwidrig pse_585.015
gelten. Es hat seine eigenen Gesetze. Als Grundsätze seiner pse_585.016
Struktur können gelten: es ist eine werdende Einheit wie der pse_585.017
"Faust"; markante Einzelszenen wie etwa Shakespeares Narrenszenen pse_585.018
haben zwar einen Sinn im Ganzen, behalten aber pse_585.019
doch ihren deutlichen Eigencharakter; im Bewegungsdrama pse_585.020
erkennen wir eine fortschreitende Entfaltung der Urgespaltenheit pse_585.021
in Breite, Zahl und Tiefe wie etwa im "Julius Cäsar", im pse_585.022
"Götz" und im "Bruderzwist". Die Spannung des Bewegungsdramas pse_585.023
besteht vor allem in der Erwartung.

pse_585.024
Die Frage nach Raum und Zeit im Drama führt auf die pse_585.025
berüchtigten drei Einheiten. Aristoteles spricht nirgends von pse_585.026
der Ortseinheit, die Zeitbegrenzung beobachtet er nur als pse_585.027
häufige Bemühung der Dichter. Ausgebildet hat diese Regeln pse_585.028
des gleichen Ortes, der Zeitbeschränkung auf 12, 24 oder gar pse_585.029
36 Stunden und der einheitlichen Handlung der Aristoteleskommentator pse_585.030
Castelvetro 1576. In der Theorie sind sie im pse_585.031
allgemeinen wichtiger genommen worden als im wirklichen pse_585.032
Schaffen. Bei den Italienern erstarren die aristotelischen Gedanken pse_585.033
durch die Erklärer, in Frankreich aber erwachsen aus pse_585.034
den erstarrenden Regeln neue schöpferische Antriebe für die pse_585.035
Dramenform: Corneille ringt noch, für Racine bedeuten die pse_585.036
Regeln gar keine Hemmung mehr. Das alte bunte französische pse_585.037
Theater ist über den Kampf um die Regeln zu einer neuen, in pse_585.038
sich geschlossenen und selbstverständlichen Seelentragödie

pse_585.001
Verwesentlichung erreicht. So ist Stoffausweitung möglich: pse_585.002
der Held greift in die Welt hinein wie Faust und Macbeth, pse_585.003
der immer weiter sein Ziel spannt und endlich spannen muß, pse_585.004
will er bestehen. Die Handlung des Bewegungsdramas kann pse_585.005
sich weiter auseinanderfalten als die des Einortdramas: durch pse_585.006
Schichtenbildungen, Verzweigungen wie die Gegenhandlung pse_585.007
in Grillparzers »Bruderzwist« oder Verschachtelungen wie im pse_585.008
»Kaufmann von Venedig«. Oder sie wird reich durch Parallelhandlungen pse_585.009
wie die Glosterhandlung im »Lear«, durch Gleichnishandlungen pse_585.010
oder dadurch, daß die Person in verschiedene pse_585.011
Daseinsstufen gezwungen wird wie Sigismund in Calderóns pse_585.012
»Leben ist Traum« oder in Hofmannsthals »Turm«. Das Bewegungsdrama pse_585.013
läßt sich in seinem Aufbau aus den Normen pse_585.014
des Einortdramas nicht verstehen und muß so als regelwidrig pse_585.015
gelten. Es hat seine eigenen Gesetze. Als Grundsätze seiner pse_585.016
Struktur können gelten: es ist eine werdende Einheit wie der pse_585.017
»Faust«; markante Einzelszenen wie etwa Shakespeares Narrenszenen pse_585.018
haben zwar einen Sinn im Ganzen, behalten aber pse_585.019
doch ihren deutlichen Eigencharakter; im Bewegungsdrama pse_585.020
erkennen wir eine fortschreitende Entfaltung der Urgespaltenheit pse_585.021
in Breite, Zahl und Tiefe wie etwa im »Julius Cäsar«, im pse_585.022
»Götz« und im »Bruderzwist«. Die Spannung des Bewegungsdramas pse_585.023
besteht vor allem in der Erwartung.

pse_585.024
Die Frage nach Raum und Zeit im Drama führt auf die pse_585.025
berüchtigten drei Einheiten. Aristoteles spricht nirgends von pse_585.026
der Ortseinheit, die Zeitbegrenzung beobachtet er nur als pse_585.027
häufige Bemühung der Dichter. Ausgebildet hat diese Regeln pse_585.028
des gleichen Ortes, der Zeitbeschränkung auf 12, 24 oder gar pse_585.029
36 Stunden und der einheitlichen Handlung der Aristoteleskommentator pse_585.030
Castelvetro 1576. In der Theorie sind sie im pse_585.031
allgemeinen wichtiger genommen worden als im wirklichen pse_585.032
Schaffen. Bei den Italienern erstarren die aristotelischen Gedanken pse_585.033
durch die Erklärer, in Frankreich aber erwachsen aus pse_585.034
den erstarrenden Regeln neue schöpferische Antriebe für die pse_585.035
Dramenform: Corneille ringt noch, für Racine bedeuten die pse_585.036
Regeln gar keine Hemmung mehr. Das alte bunte französische pse_585.037
Theater ist über den Kampf um die Regeln zu einer neuen, in pse_585.038
sich geschlossenen und selbstverständlichen Seelentragödie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0601" n="585"/><lb n="pse_585.001"/>
Verwesentlichung erreicht. So ist Stoffausweitung möglich: <lb n="pse_585.002"/>
der Held greift in die Welt hinein wie Faust und Macbeth, <lb n="pse_585.003"/>
der immer weiter sein Ziel spannt und endlich spannen muß, <lb n="pse_585.004"/>
will er bestehen. Die Handlung des Bewegungsdramas kann <lb n="pse_585.005"/>
sich weiter auseinanderfalten als die des Einortdramas: durch <lb n="pse_585.006"/>
Schichtenbildungen, Verzweigungen wie die Gegenhandlung <lb n="pse_585.007"/>
in Grillparzers »Bruderzwist« oder Verschachtelungen wie im <lb n="pse_585.008"/>
»Kaufmann von Venedig«. Oder sie wird reich durch Parallelhandlungen <lb n="pse_585.009"/>
wie die Glosterhandlung im »Lear«, durch Gleichnishandlungen <lb n="pse_585.010"/>
oder dadurch, daß die Person in verschiedene <lb n="pse_585.011"/>
Daseinsstufen gezwungen wird wie Sigismund in Calderóns <lb n="pse_585.012"/>
»Leben ist Traum« oder in Hofmannsthals »Turm«. Das Bewegungsdrama <lb n="pse_585.013"/>
läßt sich in seinem Aufbau aus den Normen <lb n="pse_585.014"/>
des Einortdramas nicht verstehen und muß so als regelwidrig <lb n="pse_585.015"/>
gelten. Es hat seine eigenen Gesetze. Als Grundsätze seiner <lb n="pse_585.016"/>
Struktur können gelten: es ist eine werdende Einheit wie der <lb n="pse_585.017"/>
»Faust«; markante Einzelszenen wie etwa Shakespeares Narrenszenen <lb n="pse_585.018"/>
haben zwar einen Sinn im Ganzen, behalten aber <lb n="pse_585.019"/>
doch ihren deutlichen Eigencharakter; im Bewegungsdrama <lb n="pse_585.020"/>
erkennen wir eine fortschreitende Entfaltung der Urgespaltenheit <lb n="pse_585.021"/>
in Breite, Zahl und Tiefe wie etwa im »Julius Cäsar«, im <lb n="pse_585.022"/>
»Götz« und im »Bruderzwist«. Die Spannung des Bewegungsdramas <lb n="pse_585.023"/>
besteht vor allem in der Erwartung.</p>
              <p><lb n="pse_585.024"/>
Die Frage nach Raum und Zeit im Drama führt auf die <lb n="pse_585.025"/>
berüchtigten <hi rendition="#i">drei Einheiten.</hi> Aristoteles spricht nirgends von <lb n="pse_585.026"/>
der Ortseinheit, die Zeitbegrenzung beobachtet er nur als <lb n="pse_585.027"/>
häufige Bemühung der Dichter. Ausgebildet hat diese Regeln <lb n="pse_585.028"/>
des gleichen Ortes, der Zeitbeschränkung auf 12, 24 oder gar <lb n="pse_585.029"/>
36 Stunden und der einheitlichen Handlung der Aristoteleskommentator <lb n="pse_585.030"/>
Castelvetro 1576. In der Theorie sind sie im <lb n="pse_585.031"/>
allgemeinen wichtiger genommen worden als im wirklichen <lb n="pse_585.032"/>
Schaffen. Bei den Italienern erstarren die aristotelischen Gedanken <lb n="pse_585.033"/>
durch die Erklärer, in Frankreich aber erwachsen aus <lb n="pse_585.034"/>
den erstarrenden Regeln neue schöpferische Antriebe für die <lb n="pse_585.035"/>
Dramenform: Corneille ringt noch, für Racine bedeuten die <lb n="pse_585.036"/>
Regeln gar keine Hemmung mehr. Das alte bunte französische <lb n="pse_585.037"/>
Theater ist über den Kampf um die Regeln zu einer neuen, in <lb n="pse_585.038"/>
sich geschlossenen und selbstverständlichen Seelentragödie
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[585/0601] pse_585.001 Verwesentlichung erreicht. So ist Stoffausweitung möglich: pse_585.002 der Held greift in die Welt hinein wie Faust und Macbeth, pse_585.003 der immer weiter sein Ziel spannt und endlich spannen muß, pse_585.004 will er bestehen. Die Handlung des Bewegungsdramas kann pse_585.005 sich weiter auseinanderfalten als die des Einortdramas: durch pse_585.006 Schichtenbildungen, Verzweigungen wie die Gegenhandlung pse_585.007 in Grillparzers »Bruderzwist« oder Verschachtelungen wie im pse_585.008 »Kaufmann von Venedig«. Oder sie wird reich durch Parallelhandlungen pse_585.009 wie die Glosterhandlung im »Lear«, durch Gleichnishandlungen pse_585.010 oder dadurch, daß die Person in verschiedene pse_585.011 Daseinsstufen gezwungen wird wie Sigismund in Calderóns pse_585.012 »Leben ist Traum« oder in Hofmannsthals »Turm«. Das Bewegungsdrama pse_585.013 läßt sich in seinem Aufbau aus den Normen pse_585.014 des Einortdramas nicht verstehen und muß so als regelwidrig pse_585.015 gelten. Es hat seine eigenen Gesetze. Als Grundsätze seiner pse_585.016 Struktur können gelten: es ist eine werdende Einheit wie der pse_585.017 »Faust«; markante Einzelszenen wie etwa Shakespeares Narrenszenen pse_585.018 haben zwar einen Sinn im Ganzen, behalten aber pse_585.019 doch ihren deutlichen Eigencharakter; im Bewegungsdrama pse_585.020 erkennen wir eine fortschreitende Entfaltung der Urgespaltenheit pse_585.021 in Breite, Zahl und Tiefe wie etwa im »Julius Cäsar«, im pse_585.022 »Götz« und im »Bruderzwist«. Die Spannung des Bewegungsdramas pse_585.023 besteht vor allem in der Erwartung. pse_585.024 Die Frage nach Raum und Zeit im Drama führt auf die pse_585.025 berüchtigten drei Einheiten. Aristoteles spricht nirgends von pse_585.026 der Ortseinheit, die Zeitbegrenzung beobachtet er nur als pse_585.027 häufige Bemühung der Dichter. Ausgebildet hat diese Regeln pse_585.028 des gleichen Ortes, der Zeitbeschränkung auf 12, 24 oder gar pse_585.029 36 Stunden und der einheitlichen Handlung der Aristoteleskommentator pse_585.030 Castelvetro 1576. In der Theorie sind sie im pse_585.031 allgemeinen wichtiger genommen worden als im wirklichen pse_585.032 Schaffen. Bei den Italienern erstarren die aristotelischen Gedanken pse_585.033 durch die Erklärer, in Frankreich aber erwachsen aus pse_585.034 den erstarrenden Regeln neue schöpferische Antriebe für die pse_585.035 Dramenform: Corneille ringt noch, für Racine bedeuten die pse_585.036 Regeln gar keine Hemmung mehr. Das alte bunte französische pse_585.037 Theater ist über den Kampf um die Regeln zu einer neuen, in pse_585.038 sich geschlossenen und selbstverständlichen Seelentragödie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/601
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/601>, abgerufen am 22.05.2024.