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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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unsichtbare Räume können durch das Miterleben der Personen pse_583.002
auf der Bühne in den Handlungsraum hereingezogen pse_583.003
werden. Solche Enthebung von der Wirklichkeit kann zur pse_583.004
Entdinglichung führen: der Raum kann so die Idee herausstellen pse_583.005
oder symbolisch werden: die Enge eines Zimmers, die pse_583.006
Weite einer Landschaft schaffen eine grundlegende und sinnvolle pse_583.007
Stimmung. Der Raum kann sich zusehends verengen pse_583.008
und damit die tragische Ausweglosigkeit andeuten, so besonders pse_583.009
im Wallensteindrama vom "Lager" an, bis Wallenstein pse_583.010
in Eger ist, das von Butler geradezu als Falle bezeichnet wird. pse_583.011
Das Gegenteil sehen wir im "Fidelio" und im Tellschluß. pse_583.012
Sehr wichtig für die Gesamtanlage eines Dramas ist die Frage, pse_583.013
ob der Dichter die Handlung auf einen Raum konzentriert pse_583.014
oder sie durch viele Räume sich hindurchbewegen läßt: pse_583.015
Einortdrama -- Bewegungsdrama.

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Im Einortdrama, das seine reinsten Ausprägungen in der pse_583.017
Antike, in der französischen tragedie classique und im naturalistischen pse_583.018
Drama findet, bleibt der Zuschauer immer in eine pse_583.019
Richtung gezwungen; das schafft dauernde Konzentration pse_583.020
ausschließlich auf den Vorgang. Dabei kann der Raum als pse_583.021
bloßer Rahmen gedacht sein für die Reden und Bewegungen pse_583.022
der Personen, oder er ist realistisch reich ausgestattet. Man pse_583.023
könnte alle Wirkungen solcher Anlage an Max Mells Versuch pse_583.024
beobachten, die beiden Teile seines Nibelungendramas je auf pse_583.025
einen Raum zu verdichten. Im Einortdrama sind die Figuren pse_583.026
streng in einen Raum gebannt, alle ihre Bewegungen richten pse_583.027
sich danach ein. Da man dem gleichen Raum nicht entkommt, pse_583.028
verdichtet sich so auch der Zeitablauf. In der Handlung zeigt pse_583.029
sich die deutlichste Auswirkung dieses Stilprinzips: die Konzentration pse_583.030
erzwingt Vollständigkeit, drückt aber auch Unentrinnbarkeit pse_583.031
aus, wie besonders in Ibsens "Gespenstern". Aber pse_583.032
sie ermöglicht auch die Einbeziehung des Inneren in hohem pse_583.033
Grade: man denke an "Iphigenie", "Tasso", "Antigone". Die pse_583.034
Handlung erreicht so große Unmittelbarkeit: obwohl in pse_583.035
Goethes "Iphigenie" der Vorgang weit in die Vergangenheit pse_583.036
und in andere Räume und endlich in die Zukunft von Individuen, pse_583.037
Familien und Völkern ausgreift, konzentriert sich pse_583.038
diese Fülle doch auf den einen heiligen Raum und damit auf

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unsichtbare Räume können durch das Miterleben der Personen pse_583.002
auf der Bühne in den Handlungsraum hereingezogen pse_583.003
werden. Solche Enthebung von der Wirklichkeit kann zur pse_583.004
Entdinglichung führen: der Raum kann so die Idee herausstellen pse_583.005
oder symbolisch werden: die Enge eines Zimmers, die pse_583.006
Weite einer Landschaft schaffen eine grundlegende und sinnvolle pse_583.007
Stimmung. Der Raum kann sich zusehends verengen pse_583.008
und damit die tragische Ausweglosigkeit andeuten, so besonders pse_583.009
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Das Gegenteil sehen wir im »Fidelio« und im Tellschluß. pse_583.012
Sehr wichtig für die Gesamtanlage eines Dramas ist die Frage, pse_583.013
ob der Dichter die Handlung auf einen Raum konzentriert pse_583.014
oder sie durch viele Räume sich hindurchbewegen läßt: pse_583.015
Einortdrama — Bewegungsdrama.

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Drama findet, bleibt der Zuschauer immer in eine pse_583.019
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Goethes »Iphigenie« der Vorgang weit in die Vergangenheit pse_583.036
und in andere Räume und endlich in die Zukunft von Individuen, pse_583.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/599>, abgerufen am 21.05.2024.