pse_561.001 Wir wollen unter einem solchen einen Roman verstehen, pse_561.002 in dem eine bekannte Persönlichkeit der Geschichte pse_561.003 oder ein bekanntes geschichtliches Ereignis oder eine ganze pse_561.004 Epoche dichterisch gestaltet wird. Da taucht sofort eine erste pse_561.005 Schwierigkeit auf. Solche geschichtliche Persönlichkeiten pse_561.006 oder Ereignisse oder Epochen sind uns nicht mehr unmittelbar pse_561.007 zugänglich wie Vorgänge in unserer Mitwelt, in der Natur, pse_561.008 in uns selbst. Sie werden uns übermittelt und vor allem pse_561.009 nach verschiedenen Gesichtspunkten zubereitet und beleuchtet pse_561.010 durch die Geschichtsforschung. Sie sind also keine unmittelbaren pse_561.011 Gegebenheiten mehr, sondern bereits menschliche pse_561.012 Geistesgebilde, allerdings geistige Gestaltung eines Ereignisses, pse_561.013 das tatsächlich einmal stattgefunden hat, einer Person, die pse_561.014 wirklich gelebt hat. Der Dichter greift also einen bereits pse_561.015 geistig geformten Stoff auf -- um ihn, nun auf seine Weise, pse_561.016 nochmals zu gestalten. Damit ist der Dichter schon etwas eingeengt, pse_561.017 so wie der Dichter, der ein anderes Kunstwerk dichterisch pse_561.018 "nach"-gestalten will. Zugleich gerät er, nicht bloß pse_561.019 in den Vorarbeiten, oft nahe an Geschichtsschreibung heran, pse_561.020 manchmal in sie hinein, und damit verwirren sich die Grenzen pse_561.021 zur Wissenschaft. Von der Geschichtswissenschaft her ist pse_561.022 das weniger bedenklich. Ein stilistisch glänzend geschriebenes pse_561.023 Geschichtswerk kann ein Sprachkunstwerk sein und ist in pse_561.024 seiner inneren Anlage, seiner Grundlegung, seiner Vorbereitung pse_561.025 und in seinen Urteilen, ihren Begründungen und Folgerungen pse_561.026 doch eine wissenschaftliche Leistung. Viele Geschichtsromane pse_561.027 sind aber populärwissenschaftliche Darstellungen, pse_561.028 wirkungsvoll verbrämt und eingekleidet, ausstaffiert pse_561.029 mit erfundenen Personen, die zur Zeit des Ereignisses gelebt pse_561.030 haben könnten, aber eben nicht dichterisch tief und wahr pse_561.031 geschaffen und gestaltet. Solche Belletristik kann ihren Wert pse_561.032 haben, der außerhalb echter Dichtung liegt, der in eine menschliche pse_561.033 Bildungsgeschichte hineingehört. Im Augenblick aber, pse_561.034 wo man sich wieder der strengen Eigengesetze der Dichtung pse_561.035 erinnert und ihre Eigenart wieder besonders betont, rückt pse_561.036 man sehr deutlich vom Geschichtsroman ab. So kann man pse_561.037 das Urteil hören, daß er heute veraltet sei.
pse_561.038 Aber auf keinen Fall kann man dem Dichter verbieten,
pse_561.001 Wir wollen unter einem solchen einen Roman verstehen, pse_561.002 in dem eine bekannte Persönlichkeit der Geschichte pse_561.003 oder ein bekanntes geschichtliches Ereignis oder eine ganze pse_561.004 Epoche dichterisch gestaltet wird. Da taucht sofort eine erste pse_561.005 Schwierigkeit auf. Solche geschichtliche Persönlichkeiten pse_561.006 oder Ereignisse oder Epochen sind uns nicht mehr unmittelbar pse_561.007 zugänglich wie Vorgänge in unserer Mitwelt, in der Natur, pse_561.008 in uns selbst. Sie werden uns übermittelt und vor allem pse_561.009 nach verschiedenen Gesichtspunkten zubereitet und beleuchtet pse_561.010 durch die Geschichtsforschung. Sie sind also keine unmittelbaren pse_561.011 Gegebenheiten mehr, sondern bereits menschliche pse_561.012 Geistesgebilde, allerdings geistige Gestaltung eines Ereignisses, pse_561.013 das tatsächlich einmal stattgefunden hat, einer Person, die pse_561.014 wirklich gelebt hat. Der Dichter greift also einen bereits pse_561.015 geistig geformten Stoff auf — um ihn, nun auf seine Weise, pse_561.016 nochmals zu gestalten. Damit ist der Dichter schon etwas eingeengt, pse_561.017 so wie der Dichter, der ein anderes Kunstwerk dichterisch pse_561.018 »nach«-gestalten will. Zugleich gerät er, nicht bloß pse_561.019 in den Vorarbeiten, oft nahe an Geschichtsschreibung heran, pse_561.020 manchmal in sie hinein, und damit verwirren sich die Grenzen pse_561.021 zur Wissenschaft. Von der Geschichtswissenschaft her ist pse_561.022 das weniger bedenklich. Ein stilistisch glänzend geschriebenes pse_561.023 Geschichtswerk kann ein Sprachkunstwerk sein und ist in pse_561.024 seiner inneren Anlage, seiner Grundlegung, seiner Vorbereitung pse_561.025 und in seinen Urteilen, ihren Begründungen und Folgerungen pse_561.026 doch eine wissenschaftliche Leistung. Viele Geschichtsromane pse_561.027 sind aber populärwissenschaftliche Darstellungen, pse_561.028 wirkungsvoll verbrämt und eingekleidet, ausstaffiert pse_561.029 mit erfundenen Personen, die zur Zeit des Ereignisses gelebt pse_561.030 haben könnten, aber eben nicht dichterisch tief und wahr pse_561.031 geschaffen und gestaltet. Solche Belletristik kann ihren Wert pse_561.032 haben, der außerhalb echter Dichtung liegt, der in eine menschliche pse_561.033 Bildungsgeschichte hineingehört. Im Augenblick aber, pse_561.034 wo man sich wieder der strengen Eigengesetze der Dichtung pse_561.035 erinnert und ihre Eigenart wieder besonders betont, rückt pse_561.036 man sehr deutlich vom Geschichtsroman ab. So kann man pse_561.037 das Urteil hören, daß er heute veraltet sei.
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oder ein bekanntes geschichtliches Ereignis oder eine ganze pse_561.004
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oder Ereignisse oder Epochen sind uns nicht mehr unmittelbar pse_561.007
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in uns selbst. Sie werden uns übermittelt und vor allem pse_561.009
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durch die Geschichtsforschung. Sie sind also keine unmittelbaren pse_561.011
Gegebenheiten mehr, sondern bereits menschliche pse_561.012
Geistesgebilde, allerdings geistige Gestaltung eines Ereignisses, pse_561.013
das tatsächlich einmal stattgefunden hat, einer Person, die pse_561.014
wirklich gelebt hat. Der Dichter greift also einen bereits pse_561.015
geistig geformten Stoff auf — um ihn, nun auf seine Weise, pse_561.016
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so wie der Dichter, der ein anderes Kunstwerk dichterisch pse_561.018
»nach«-gestalten will. Zugleich gerät er, nicht bloß pse_561.019
in den Vorarbeiten, oft nahe an Geschichtsschreibung heran, pse_561.020
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das weniger bedenklich. Ein stilistisch glänzend geschriebenes pse_561.023
Geschichtswerk kann ein Sprachkunstwerk sein und ist in pse_561.024
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mit erfundenen Personen, die zur Zeit des Ereignisses gelebt pse_561.030
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Bildungsgeschichte hineingehört. Im Augenblick aber, pse_561.034
wo man sich wieder der strengen Eigengesetze der Dichtung pse_561.035
erinnert und ihre Eigenart wieder besonders betont, rückt pse_561.036
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/577>, abgerufen am 22.11.2024.
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