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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Aber dreierlei ist dabei zu beachten. 1. Neben diesen pse_534.002
Romanen, die scheinbar die bisherige Form zerbrechen oder pse_534.003
langsam auflösen, gibt es auch andere in unserer Zeit, die die pse_534.004
Tradition aufrechterhalten. Das sind nicht nur die Unmenge pse_534.005
der Unterhaltungsromane, die kaum einmal neue künstlerische pse_534.006
Wagnisse des Erzählens aufweisen, sondern auch bedeutende pse_534.007
dichterische Leistungen. Ihnen gegenüber zeigt pse_534.008
dann die Kritik eine doppelte Haltung: entweder tut sie sie pse_534.009
mit den Worten "veraltet", problemlos, seicht, oder gar mit pse_534.010
politischer Diffamierung ab, oder sie sucht krampfhaft nach pse_534.011
Zügen, die sie nun auch zur einzig möglichen modernen pse_534.012
Kunst stempeln. Entscheidungen sind hier oft sehr schwer: pse_534.013
der Kampf zwischen Revolution und Tradition ist sehr scharf, pse_534.014
und es muß beachtet werden, daß Traditionsgebundenheit pse_534.015
sicher auch unschöpferisches, plattes Epigonentum sein kann, pse_534.016
daß aber Revolution auch unkünstlerisches Experimentieren, pse_534.017
freches Auftrumpfen und Zerstörung um der Zerstörung pse_534.018
willen bedeuten kann. 2. Viele Züge des modernen Romans pse_534.019
sind gar nicht modern. Wir finden sie früher schon. Wir sind pse_534.020
bei tieferer geschichtlicher Betrachtung erstaunt, daß manches, pse_534.021
was uns heute als das künstlerisch Neue hingestellt pse_534.022
wird, schon im Barockroman oder in den Romanen der deutschen pse_534.023
Romantik zu finden ist. Theoretische Forderungen der pse_534.024
Brüder Schlegel und Hardenbergs und Versuche E. T. A. pse_534.025
Hoffmanns, besonders sein "Kater Murr" werden vom modernen pse_534.026
Roman wieder aufgenommen und weitergeführt. Der pse_534.027
Roman der früheren Goethezeit und des 19. Jahrhunderts pse_534.028
würde dann mit dem der Aufklärungszeit eine engere Einheit pse_534.029
gegenüber dem Zusammenhang Barock-Romantik-Moderne pse_534.030
bilden. Ein solcher geschichtlicher Blick schränkt den Ruhm pse_534.031
der Neuheit doch wesentlich ein. 3. Wir müssen immer beachten, pse_534.032
daß die letzten 30-40 Jahre des Romanschaffens einem, pse_534.033
das vom späten Altertum bis Ende des 19. Jahrhunderts reicht, pse_534.034
gegenübersteht. Das zwingt zur Bescheidenheit, vor allem pse_534.035
in den Prognosen. Und selbstverständlich versuchen wir hier, pse_534.036
ein Gesamtbild der Kunstform des Romans zu geben. Doch pse_534.037
sollen immerhin die Züge des modernen Romans beachtet pse_534.038
werden. Auf alle Fälle kann man noch nicht sagen, daß der

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Aber dreierlei ist dabei zu beachten. 1. Neben diesen pse_534.002
Romanen, die scheinbar die bisherige Form zerbrechen oder pse_534.003
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wird, schon im Barockroman oder in den Romanen der deutschen pse_534.023
Romantik zu finden ist. Theoretische Forderungen der pse_534.024
Brüder Schlegel und Hardenbergs und Versuche E. T. A. pse_534.025
Hoffmanns, besonders sein »Kater Murr« werden vom modernen pse_534.026
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Roman der früheren Goethezeit und des 19. Jahrhunderts pse_534.028
würde dann mit dem der Aufklärungszeit eine engere Einheit pse_534.029
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bilden. Ein solcher geschichtlicher Blick schränkt den Ruhm pse_534.031
der Neuheit doch wesentlich ein. 3. Wir müssen immer beachten, pse_534.032
daß die letzten 30–40 Jahre des Romanschaffens einem, pse_534.033
das vom späten Altertum bis Ende des 19. Jahrhunderts reicht, pse_534.034
gegenübersteht. Das zwingt zur Bescheidenheit, vor allem pse_534.035
in den Prognosen. Und selbstverständlich versuchen wir hier, pse_534.036
ein Gesamtbild der Kunstform des Romans zu geben. Doch pse_534.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/550>, abgerufen am 18.05.2024.