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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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unheimliche Menge, der gegenüber immer wieder die Frage pse_533.002
berechtigt ist, ob da noch von Dichtung die Rede sein könne. pse_533.003
Bei den unscheinbaren Übergängen und dem anspruchsvollen pse_533.004
Auftreten der unteren Ware ist hier die Bedeutung der literarischen pse_533.005
Wertung besonders klar. Auch in der geschichtlichen pse_533.006
Folge eine beängstigende Mannigfaltigkeit: von den pse_533.007
Liebesgeschichten des spätgriechischen Romans bis zur Gegenwart pse_533.008
lösen sich ab: der Abenteuerroman des Mittelalters, die pse_533.009
Ritterromane, die Volksbücher, der Schelmenroman, der pse_533.010
Schäferroman, der höfisch-politische Barockroman, die Robinsonaden, pse_533.011
die Staatsromane, die Familienromane psychologischer pse_533.012
Art, die Wertherromane, dann die reiche Entfaltung pse_533.013
des Bildungsromans, des Künstlerromans, des Geschichtsromans, pse_533.014
endlich die aktuellen Zeitromane, die Problemromane, pse_533.015
die Zukunftsromane. Wobei mit diesen Etiketten pse_533.016
die künstlerisch bedeutsamen Leistungen der Gegenwart gar pse_533.017
nicht greifbar sind: Th. Mann, Hesse, Kafka, Broch, Musil, pse_533.018
V. Woolf, Th. Wolfe, Hemingway, Faulkner, Gide, Proust, pse_533.019
Hamsun, um nur ein paar Namen zu nennen. Und während pse_533.020
man im Anblick dieser Flut oft hören kann, der Roman sei pse_533.021
heute die einzig mögliche dichterische Gestaltungsform, pse_533.022
alles andere antiquiert, museal, ohne Zukunft, hat es sehr pse_533.023
lange gebraucht, bis sich der Roman überhaupt den Rang pse_533.024
einer Dichtung sichern konnte. Noch Schiller nennt ihn eine pse_533.025
halbpoetische Gattung. Und gerade weil im Gebiet des Romans pse_533.026
der Übergang zur unbedingt undichterischen Schreiberei pse_533.027
am unauffälligsten ist, ist besondere Achtsamkeit und pse_533.028
Verantwortlichkeit am Platz.

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Dazu tritt ein weiteres: im künstlerisch gewichtigen Roman pse_533.030
der unmittelbaren Gegenwart tauchen so neue Züge pse_533.031
auf, daß man vielfach von etwas ganz Neuem gesprochen hat, pse_533.032
daß man oft meint, der übliche Roman sei zu Ende, jetzt pse_533.033
werde etwas ganz anderes geschaffen: Untergang und Übergang pse_533.034
der epischen Kunstform, wie Kahler gesagt hat. Sicher pse_533.035
weisen viele bedeutende Gegenwartsromane ganz neue künstlerische pse_533.036
Merkmale auf, scheinen mit der ganzen Vergangenheit pse_533.037
künstlerischer Art auf dem Gebiet der epischen Kunst pse_533.038
zu brechen. Wir werden diese neuen Züge herausheben müssen.

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auf, daß man vielfach von etwas ganz Neuem gesprochen hat, pse_533.032
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der epischen Kunstform, wie Kahler gesagt hat. Sicher pse_533.035
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[533/0549] pse_533.001 unheimliche Menge, der gegenüber immer wieder die Frage pse_533.002 berechtigt ist, ob da noch von Dichtung die Rede sein könne. pse_533.003 Bei den unscheinbaren Übergängen und dem anspruchsvollen pse_533.004 Auftreten der unteren Ware ist hier die Bedeutung der literarischen pse_533.005 Wertung besonders klar. Auch in der geschichtlichen pse_533.006 Folge eine beängstigende Mannigfaltigkeit: von den pse_533.007 Liebesgeschichten des spätgriechischen Romans bis zur Gegenwart pse_533.008 lösen sich ab: der Abenteuerroman des Mittelalters, die pse_533.009 Ritterromane, die Volksbücher, der Schelmenroman, der pse_533.010 Schäferroman, der höfisch-politische Barockroman, die Robinsonaden, pse_533.011 die Staatsromane, die Familienromane psychologischer pse_533.012 Art, die Wertherromane, dann die reiche Entfaltung pse_533.013 des Bildungsromans, des Künstlerromans, des Geschichtsromans, pse_533.014 endlich die aktuellen Zeitromane, die Problemromane, pse_533.015 die Zukunftsromane. Wobei mit diesen Etiketten pse_533.016 die künstlerisch bedeutsamen Leistungen der Gegenwart gar pse_533.017 nicht greifbar sind: Th. Mann, Hesse, Kafka, Broch, Musil, pse_533.018 V. Woolf, Th. Wolfe, Hemingway, Faulkner, Gide, Proust, pse_533.019 Hamsun, um nur ein paar Namen zu nennen. Und während pse_533.020 man im Anblick dieser Flut oft hören kann, der Roman sei pse_533.021 heute die einzig mögliche dichterische Gestaltungsform, pse_533.022 alles andere antiquiert, museal, ohne Zukunft, hat es sehr pse_533.023 lange gebraucht, bis sich der Roman überhaupt den Rang pse_533.024 einer Dichtung sichern konnte. Noch Schiller nennt ihn eine pse_533.025 halbpoetische Gattung. Und gerade weil im Gebiet des Romans pse_533.026 der Übergang zur unbedingt undichterischen Schreiberei pse_533.027 am unauffälligsten ist, ist besondere Achtsamkeit und pse_533.028 Verantwortlichkeit am Platz. pse_533.029 Dazu tritt ein weiteres: im künstlerisch gewichtigen Roman pse_533.030 der unmittelbaren Gegenwart tauchen so neue Züge pse_533.031 auf, daß man vielfach von etwas ganz Neuem gesprochen hat, pse_533.032 daß man oft meint, der übliche Roman sei zu Ende, jetzt pse_533.033 werde etwas ganz anderes geschaffen: Untergang und Übergang pse_533.034 der epischen Kunstform, wie Kahler gesagt hat. Sicher pse_533.035 weisen viele bedeutende Gegenwartsromane ganz neue künstlerische pse_533.036 Merkmale auf, scheinen mit der ganzen Vergangenheit pse_533.037 künstlerischer Art auf dem Gebiet der epischen Kunst pse_533.038 zu brechen. Wir werden diese neuen Züge herausheben müssen.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/549>, abgerufen am 21.05.2024.