Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_524.001
in verschiedener Weise bereichert und aufgefüllt werden. pse_524.002
Denn immer kommt es darauf an, was der Erzähler aus dem pse_524.003
Stoff macht. Also nicht dieser, sondern das Erzählen ist maßgebend. pse_524.004
Diese Entfaltung in die Breite ergibt von selber ein pse_524.005
Einbeziehen weiter Weltbereiche. Das in der Großepik entfaltete pse_524.006
Weltbild ist umfassend, es wird immer eine Lebensganzheit pse_524.007
gestaltet. Im groben kann man zwei Arten unterscheiden: pse_524.008
Epos und Roman. Sicher ist es meistens so, daß die pse_524.009
Epen in Versen, die Romane in Prosa geschrieben sind, aber pse_524.010
das ist nicht das Ausschlaggebende und erleidet auch beachtliche pse_524.011
Ausnahmen. Auch ist diese Scheidung nicht vollständig, pse_524.012
denn der Romanzenzyklus tritt noch hinzu.

pse_524.013
Wenn man von Epos spricht, so denkt man immer zuerst pse_524.014
an die beiden Homerischen Dichtungen "Ilias" und "Odyssee". pse_524.015
Sie sind dichterisch so bedeutsam und geschichtlich so wichtig, pse_524.016
daß man oft die ganze Epentheorie nur von ihnen ableitet. pse_524.017
Die homerischen Epen dienten durchs ganze Altertum pse_524.018
als Vorbild, bis der größte Angeregte, Vergil, sie dann bis ins pse_524.019
18. Jahrhundert in den Hintergrund drängte. Aber es gibt pse_524.020
auch andere epische Großdichtungen, die als Epen bezeichnet pse_524.021
werden müssen: neben Vergils "Aeneis" vor allem alte indische pse_524.022
und persische Dichtungen, das Nibelungenlied, wohl pse_524.023
auch Wolframs "Parzival", während man bei anderen ritterlichen pse_524.024
Verserzählungen schwanken könnte, ob sie nicht auch pse_524.025
Versromane genannt werden sollten. Weiter, um bei den pse_524.026
bekannten zu bleiben, Miltons "Verlorenes Paradies", Klopstocks pse_524.027
"Messias", der aber schon wieder ein Grenzfall ist, pse_524.028
ebenso wie Goethes "Hermann und Dorothea", eine Dichtung, pse_524.029
die schon ins Idyllische hinüberdrängt. Große Epen sind auch pse_524.030
noch nach Goethe versucht worden: von Spitteler, Paul pse_524.031
Ernst, Gerhart Hauptmann. Aber die Wertschätzung des pse_524.032
Epos war nicht immer gleich. Während man diesen modernen pse_524.033
Versuchen, schon seit Milton, etwas bedenklich gegenübersteht, pse_524.034
wertet man heute die alten Epen immer noch sehr hoch, pse_524.035
und in der Kunsttheorie wurde das Epos neben dem Drama pse_524.036
bis weit ins 18. Jahrhundert als die große und echte Dichtung pse_524.037
angesehen.

pse_524.038
Das Weltbild des Epos entfaltet eine Gesamtheit, einen

pse_524.001
in verschiedener Weise bereichert und aufgefüllt werden. pse_524.002
Denn immer kommt es darauf an, was der Erzähler aus dem pse_524.003
Stoff macht. Also nicht dieser, sondern das Erzählen ist maßgebend. pse_524.004
Diese Entfaltung in die Breite ergibt von selber ein pse_524.005
Einbeziehen weiter Weltbereiche. Das in der Großepik entfaltete pse_524.006
Weltbild ist umfassend, es wird immer eine Lebensganzheit pse_524.007
gestaltet. Im groben kann man zwei Arten unterscheiden: pse_524.008
Epos und Roman. Sicher ist es meistens so, daß die pse_524.009
Epen in Versen, die Romane in Prosa geschrieben sind, aber pse_524.010
das ist nicht das Ausschlaggebende und erleidet auch beachtliche pse_524.011
Ausnahmen. Auch ist diese Scheidung nicht vollständig, pse_524.012
denn der Romanzenzyklus tritt noch hinzu.

pse_524.013
Wenn man von Epos spricht, so denkt man immer zuerst pse_524.014
an die beiden Homerischen Dichtungen »Ilias« und »Odyssee«. pse_524.015
Sie sind dichterisch so bedeutsam und geschichtlich so wichtig, pse_524.016
daß man oft die ganze Epentheorie nur von ihnen ableitet. pse_524.017
Die homerischen Epen dienten durchs ganze Altertum pse_524.018
als Vorbild, bis der größte Angeregte, Vergil, sie dann bis ins pse_524.019
18. Jahrhundert in den Hintergrund drängte. Aber es gibt pse_524.020
auch andere epische Großdichtungen, die als Epen bezeichnet pse_524.021
werden müssen: neben Vergils »Aeneis« vor allem alte indische pse_524.022
und persische Dichtungen, das Nibelungenlied, wohl pse_524.023
auch Wolframs »Parzival«, während man bei anderen ritterlichen pse_524.024
Verserzählungen schwanken könnte, ob sie nicht auch pse_524.025
Versromane genannt werden sollten. Weiter, um bei den pse_524.026
bekannten zu bleiben, Miltons »Verlorenes Paradies«, Klopstocks pse_524.027
»Messias«, der aber schon wieder ein Grenzfall ist, pse_524.028
ebenso wie Goethes »Hermann und Dorothea«, eine Dichtung, pse_524.029
die schon ins Idyllische hinüberdrängt. Große Epen sind auch pse_524.030
noch nach Goethe versucht worden: von Spitteler, Paul pse_524.031
Ernst, Gerhart Hauptmann. Aber die Wertschätzung des pse_524.032
Epos war nicht immer gleich. Während man diesen modernen pse_524.033
Versuchen, schon seit Milton, etwas bedenklich gegenübersteht, pse_524.034
wertet man heute die alten Epen immer noch sehr hoch, pse_524.035
und in der Kunsttheorie wurde das Epos neben dem Drama pse_524.036
bis weit ins 18. Jahrhundert als die große und echte Dichtung pse_524.037
angesehen.

pse_524.038
Das Weltbild des Epos entfaltet eine Gesamtheit, einen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0540" n="524"/><lb n="pse_524.001"/>
in verschiedener Weise bereichert und aufgefüllt werden. <lb n="pse_524.002"/>
Denn immer kommt es darauf an, was der Erzähler aus dem <lb n="pse_524.003"/>
Stoff macht. Also nicht dieser, sondern das Erzählen ist maßgebend. <lb n="pse_524.004"/>
Diese Entfaltung in die Breite ergibt von selber ein <lb n="pse_524.005"/>
Einbeziehen weiter Weltbereiche. Das in der Großepik entfaltete <lb n="pse_524.006"/>
Weltbild ist umfassend, es wird immer eine Lebensganzheit <lb n="pse_524.007"/>
gestaltet. Im groben kann man zwei Arten unterscheiden: <lb n="pse_524.008"/>
Epos und Roman. Sicher ist es meistens so, daß die <lb n="pse_524.009"/>
Epen in Versen, die Romane in Prosa geschrieben sind, aber <lb n="pse_524.010"/>
das ist nicht das Ausschlaggebende und erleidet auch beachtliche <lb n="pse_524.011"/>
Ausnahmen. Auch ist diese Scheidung nicht vollständig, <lb n="pse_524.012"/>
denn der Romanzenzyklus tritt noch hinzu.</p>
              <p><lb n="pse_524.013"/>
Wenn man von <hi rendition="#i">Epos</hi> spricht, so denkt man immer zuerst <lb n="pse_524.014"/>
an die beiden Homerischen Dichtungen »Ilias« und »Odyssee«. <lb n="pse_524.015"/>
Sie sind dichterisch so bedeutsam und geschichtlich so wichtig, <lb n="pse_524.016"/>
daß man oft die ganze Epentheorie nur von ihnen ableitet. <lb n="pse_524.017"/>
Die homerischen Epen dienten durchs ganze Altertum <lb n="pse_524.018"/>
als Vorbild, bis der größte Angeregte, Vergil, sie dann bis ins <lb n="pse_524.019"/>
18. Jahrhundert in den Hintergrund drängte. Aber es gibt <lb n="pse_524.020"/>
auch andere epische Großdichtungen, die als Epen bezeichnet <lb n="pse_524.021"/>
werden müssen: neben Vergils »Aeneis« vor allem alte indische <lb n="pse_524.022"/>
und persische Dichtungen, das Nibelungenlied, wohl <lb n="pse_524.023"/>
auch Wolframs »Parzival«, während man bei anderen ritterlichen <lb n="pse_524.024"/>
Verserzählungen schwanken könnte, ob sie nicht auch <lb n="pse_524.025"/>
Versromane genannt werden sollten. Weiter, um bei den <lb n="pse_524.026"/>
bekannten zu bleiben, Miltons »Verlorenes Paradies«, Klopstocks <lb n="pse_524.027"/>
»Messias«, der aber schon wieder ein Grenzfall ist, <lb n="pse_524.028"/>
ebenso wie Goethes »Hermann und Dorothea«, eine Dichtung, <lb n="pse_524.029"/>
die schon ins Idyllische hinüberdrängt. Große Epen sind auch <lb n="pse_524.030"/>
noch nach Goethe versucht worden: von Spitteler, Paul <lb n="pse_524.031"/>
Ernst, Gerhart Hauptmann. Aber die Wertschätzung des <lb n="pse_524.032"/>
Epos war nicht immer gleich. Während man diesen modernen <lb n="pse_524.033"/>
Versuchen, schon seit Milton, etwas bedenklich gegenübersteht, <lb n="pse_524.034"/>
wertet man heute die alten Epen immer noch sehr hoch, <lb n="pse_524.035"/>
und in der Kunsttheorie wurde das Epos neben dem Drama <lb n="pse_524.036"/>
bis weit ins 18. Jahrhundert als die große und echte Dichtung <lb n="pse_524.037"/>
angesehen.</p>
              <p><lb n="pse_524.038"/>
Das Weltbild des Epos entfaltet eine Gesamtheit, einen
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[524/0540] pse_524.001 in verschiedener Weise bereichert und aufgefüllt werden. pse_524.002 Denn immer kommt es darauf an, was der Erzähler aus dem pse_524.003 Stoff macht. Also nicht dieser, sondern das Erzählen ist maßgebend. pse_524.004 Diese Entfaltung in die Breite ergibt von selber ein pse_524.005 Einbeziehen weiter Weltbereiche. Das in der Großepik entfaltete pse_524.006 Weltbild ist umfassend, es wird immer eine Lebensganzheit pse_524.007 gestaltet. Im groben kann man zwei Arten unterscheiden: pse_524.008 Epos und Roman. Sicher ist es meistens so, daß die pse_524.009 Epen in Versen, die Romane in Prosa geschrieben sind, aber pse_524.010 das ist nicht das Ausschlaggebende und erleidet auch beachtliche pse_524.011 Ausnahmen. Auch ist diese Scheidung nicht vollständig, pse_524.012 denn der Romanzenzyklus tritt noch hinzu. pse_524.013 Wenn man von Epos spricht, so denkt man immer zuerst pse_524.014 an die beiden Homerischen Dichtungen »Ilias« und »Odyssee«. pse_524.015 Sie sind dichterisch so bedeutsam und geschichtlich so wichtig, pse_524.016 daß man oft die ganze Epentheorie nur von ihnen ableitet. pse_524.017 Die homerischen Epen dienten durchs ganze Altertum pse_524.018 als Vorbild, bis der größte Angeregte, Vergil, sie dann bis ins pse_524.019 18. Jahrhundert in den Hintergrund drängte. Aber es gibt pse_524.020 auch andere epische Großdichtungen, die als Epen bezeichnet pse_524.021 werden müssen: neben Vergils »Aeneis« vor allem alte indische pse_524.022 und persische Dichtungen, das Nibelungenlied, wohl pse_524.023 auch Wolframs »Parzival«, während man bei anderen ritterlichen pse_524.024 Verserzählungen schwanken könnte, ob sie nicht auch pse_524.025 Versromane genannt werden sollten. Weiter, um bei den pse_524.026 bekannten zu bleiben, Miltons »Verlorenes Paradies«, Klopstocks pse_524.027 »Messias«, der aber schon wieder ein Grenzfall ist, pse_524.028 ebenso wie Goethes »Hermann und Dorothea«, eine Dichtung, pse_524.029 die schon ins Idyllische hinüberdrängt. Große Epen sind auch pse_524.030 noch nach Goethe versucht worden: von Spitteler, Paul pse_524.031 Ernst, Gerhart Hauptmann. Aber die Wertschätzung des pse_524.032 Epos war nicht immer gleich. Während man diesen modernen pse_524.033 Versuchen, schon seit Milton, etwas bedenklich gegenübersteht, pse_524.034 wertet man heute die alten Epen immer noch sehr hoch, pse_524.035 und in der Kunsttheorie wurde das Epos neben dem Drama pse_524.036 bis weit ins 18. Jahrhundert als die große und echte Dichtung pse_524.037 angesehen. pse_524.038 Das Weltbild des Epos entfaltet eine Gesamtheit, einen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/540
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/540>, abgerufen am 21.06.2024.