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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Grauenhafte und Unheimliche vermeidet. Es ist eine schlichte pse_522.002
Erzählung aus dem Leben von Heiligen, wobei allerdings auch pse_522.003
zu beobachten ist, daß sich die Darstellung auf ein besonderes pse_522.004
Ereignis hinlenkt. Damit ist die Möglichkeit novellenhafter pse_522.005
Form gegeben, wie wir sie an G. Kellers "Sieben Legenden" pse_522.006
erkennen.

pse_522.007
Die beiden lehrhaften Erzählformen dieser Gruppe sind die pse_522.008
Fabel und die Parabel. Die Fabel ist meist äußerlich eine Geschichte pse_522.009
aus der Tierwelt, allenfalls auch aus anderen nichtmenschlichen pse_522.010
Bereichen der Natur. Aber sie ist von der Tierdichtung pse_522.011
zu unterscheiden. Tierdichtung im weiteren Sinn pse_522.012
will dichterisch, meist erzählerisch, die Tiere in ihrem Wesen pse_522.013
erfassen. Man denke an Svend Fleuron und an J. Wenter. In pse_522.014
der Fabel aber erscheint das Tier gar nicht in seinem Wesen, pse_522.015
es ist kein Stück göttlicher Natur, sondern bereits entgöttert. pse_522.016
In einem unmerkbaren Ruck erfassen wir plötzlich, daß hinter pse_522.017
dem Gehaben des Tieres eigentlich der Mensch gemeint pse_522.018
ist: damit setzt die Lehrhaftigkeit ein. Sie wird dadurch noch pse_522.019
besonders deutlich, daß sie auch auf ein auffälliges Ende hin pse_522.020
strebt; man erwartet etwas Besonderes, eine Pointe muß den pse_522.021
Schluß bilden. In ihr wird die moralische Lehre greifbar, es ist pse_522.022
eigentlich nicht nötig, sie eigens noch hinzuzufügen. Fabeln pse_522.023
erwachsen aus einer bestimmten geschichtlichen Lage. Sie sind pse_522.024
überschaubar, unheroisch, gestalten menschliche Schwächen.

pse_522.025
Die Parabel ist eine selbständige Erzählung, sie hat nur pse_522.026
einen Bezugspunkt zur Lehre: nur in einem kleinen Zug pse_522.027
öffnet sich der lehrhafte Sinn, der dann am Schluß gleichsam pse_522.028
wie eine reife Frucht vom Baume fällt. Aber obwohl man pse_522.029
die Lehre erwartet, freut man sich doch zugleich am reinen pse_522.030
Erzählen. Durch die Schlußlehre erhält die parabelhafte Erzählung pse_522.031
eine abstrakte Form: nur das wird erzählt, was auf pse_522.032
den Schluß hinarbeiten kann, nur die Züge werden gebracht, pse_522.033
die für den Schlußsinn wichtig sind. Daher kann man auch pse_522.034
sagen, daß in gewissen modernen Romanen, besonders denen pse_522.035
Kafkas, ein parabelhafter Zug vorhanden ist.

pse_522.036
Es gibt noch andere Formen knappen Erzählens, die ihren pse_522.037
Namen durch die Stimmungen erhalten haben, die in solchen pse_522.038
Erzählungen grundlegend sind. Zunächst eine Gruppe, die

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Grauenhafte und Unheimliche vermeidet. Es ist eine schlichte pse_522.002
Erzählung aus dem Leben von Heiligen, wobei allerdings auch pse_522.003
zu beobachten ist, daß sich die Darstellung auf ein besonderes pse_522.004
Ereignis hinlenkt. Damit ist die Möglichkeit novellenhafter pse_522.005
Form gegeben, wie wir sie an G. Kellers »Sieben Legenden« pse_522.006
erkennen.

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Die beiden lehrhaften Erzählformen dieser Gruppe sind die pse_522.008
Fabel und die Parabel. Die Fabel ist meist äußerlich eine Geschichte pse_522.009
aus der Tierwelt, allenfalls auch aus anderen nichtmenschlichen pse_522.010
Bereichen der Natur. Aber sie ist von der Tierdichtung pse_522.011
zu unterscheiden. Tierdichtung im weiteren Sinn pse_522.012
will dichterisch, meist erzählerisch, die Tiere in ihrem Wesen pse_522.013
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In einem unmerkbaren Ruck erfassen wir plötzlich, daß hinter pse_522.017
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strebt; man erwartet etwas Besonderes, eine Pointe muß den pse_522.021
Schluß bilden. In ihr wird die moralische Lehre greifbar, es ist pse_522.022
eigentlich nicht nötig, sie eigens noch hinzuzufügen. Fabeln pse_522.023
erwachsen aus einer bestimmten geschichtlichen Lage. Sie sind pse_522.024
überschaubar, unheroisch, gestalten menschliche Schwächen.

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Die Parabel ist eine selbständige Erzählung, sie hat nur pse_522.026
einen Bezugspunkt zur Lehre: nur in einem kleinen Zug pse_522.027
öffnet sich der lehrhafte Sinn, der dann am Schluß gleichsam pse_522.028
wie eine reife Frucht vom Baume fällt. Aber obwohl man pse_522.029
die Lehre erwartet, freut man sich doch zugleich am reinen pse_522.030
Erzählen. Durch die Schlußlehre erhält die parabelhafte Erzählung pse_522.031
eine abstrakte Form: nur das wird erzählt, was auf pse_522.032
den Schluß hinarbeiten kann, nur die Züge werden gebracht, pse_522.033
die für den Schlußsinn wichtig sind. Daher kann man auch pse_522.034
sagen, daß in gewissen modernen Romanen, besonders denen pse_522.035
Kafkas, ein parabelhafter Zug vorhanden ist.

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Es gibt noch andere Formen knappen Erzählens, die ihren pse_522.037
Namen durch die Stimmungen erhalten haben, die in solchen pse_522.038
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[522/0538] pse_522.001 Grauenhafte und Unheimliche vermeidet. Es ist eine schlichte pse_522.002 Erzählung aus dem Leben von Heiligen, wobei allerdings auch pse_522.003 zu beobachten ist, daß sich die Darstellung auf ein besonderes pse_522.004 Ereignis hinlenkt. Damit ist die Möglichkeit novellenhafter pse_522.005 Form gegeben, wie wir sie an G. Kellers »Sieben Legenden« pse_522.006 erkennen. pse_522.007 Die beiden lehrhaften Erzählformen dieser Gruppe sind die pse_522.008 Fabel und die Parabel. Die Fabel ist meist äußerlich eine Geschichte pse_522.009 aus der Tierwelt, allenfalls auch aus anderen nichtmenschlichen pse_522.010 Bereichen der Natur. Aber sie ist von der Tierdichtung pse_522.011 zu unterscheiden. Tierdichtung im weiteren Sinn pse_522.012 will dichterisch, meist erzählerisch, die Tiere in ihrem Wesen pse_522.013 erfassen. Man denke an Svend Fleuron und an J. Wenter. In pse_522.014 der Fabel aber erscheint das Tier gar nicht in seinem Wesen, pse_522.015 es ist kein Stück göttlicher Natur, sondern bereits entgöttert. pse_522.016 In einem unmerkbaren Ruck erfassen wir plötzlich, daß hinter pse_522.017 dem Gehaben des Tieres eigentlich der Mensch gemeint pse_522.018 ist: damit setzt die Lehrhaftigkeit ein. Sie wird dadurch noch pse_522.019 besonders deutlich, daß sie auch auf ein auffälliges Ende hin pse_522.020 strebt; man erwartet etwas Besonderes, eine Pointe muß den pse_522.021 Schluß bilden. In ihr wird die moralische Lehre greifbar, es ist pse_522.022 eigentlich nicht nötig, sie eigens noch hinzuzufügen. Fabeln pse_522.023 erwachsen aus einer bestimmten geschichtlichen Lage. Sie sind pse_522.024 überschaubar, unheroisch, gestalten menschliche Schwächen. pse_522.025 Die Parabel ist eine selbständige Erzählung, sie hat nur pse_522.026 einen Bezugspunkt zur Lehre: nur in einem kleinen Zug pse_522.027 öffnet sich der lehrhafte Sinn, der dann am Schluß gleichsam pse_522.028 wie eine reife Frucht vom Baume fällt. Aber obwohl man pse_522.029 die Lehre erwartet, freut man sich doch zugleich am reinen pse_522.030 Erzählen. Durch die Schlußlehre erhält die parabelhafte Erzählung pse_522.031 eine abstrakte Form: nur das wird erzählt, was auf pse_522.032 den Schluß hinarbeiten kann, nur die Züge werden gebracht, pse_522.033 die für den Schlußsinn wichtig sind. Daher kann man auch pse_522.034 sagen, daß in gewissen modernen Romanen, besonders denen pse_522.035 Kafkas, ein parabelhafter Zug vorhanden ist. pse_522.036 Es gibt noch andere Formen knappen Erzählens, die ihren pse_522.037 Namen durch die Stimmungen erhalten haben, die in solchen pse_522.038 Erzählungen grundlegend sind. Zunächst eine Gruppe, die

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/538>, abgerufen am 24.08.2024.