Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_035.001
ein ganz bestimmtes Haus zu denken oder gar es anzusehen. pse_035.002
Auch wenn keines zu sehen ist, versteht er das Wort und pse_035.003
stellt sich dabei doch nicht anschaulich ein konkretes Haus vor. pse_035.004
Sondern das Wort paßt, wie man volkstümlich sagt, gleichsam pse_035.005
auf alle Häuser. Genauer gesehen: ich habe mit diesem pse_035.006
Wort ein Stück aus dem Erfahrungsstrom herausgegrenzt zu pse_035.007
einem nun geistig verfügbaren Gebilde, das jederzeit verwendbar pse_035.008
ist und ganz allgemeinen Bezug gewinnt: über die pse_035.009
konkrete Einmaligkeit ist das Wort hinausgehoben ins Allgemeine, pse_035.010
Dauernde. Das Wesenhafte des Hauses ist damit sprachlich pse_035.011
"aufgehoben". Hier greifen wir eine der bedeutendsten pse_035.012
Leistungen der Sprache: Schaffung einer jederzeit verfügbaren pse_035.013
geistigen Wirklichkeit über den konkreten Einzelheiten pse_035.014
des Alltags, die uns aber erst zu Herren über diese pse_035.015
Einzelheiten macht. Im Sprachkunstwerk aber hat diese Verwesentlichung pse_035.016
eine ganz bestimmte Art. Im praktischen Leben pse_035.017
heißt sie: mit der Sprache ganz allgemein über alles reden pse_035.018
können, sich verständigen können. Gerade in der Verallgemeinerung pse_035.019
liegt die Möglichkeit der Verständigung. Im pse_035.020
wissenschaftlichen Sprechen und Schreiben heißt Verwesentlichung: pse_035.021
Einordnen in die allgemeinen, streng sogar in die pse_035.022
logischen Begriffe, in das System der Begriffe. Im Sprachkunstwerk pse_035.023
aber meint Verwesentlichung: ins volle Bild der pse_035.024
dauernden Wesenheiten heben, das zu einmalig Konkrete ganz pse_035.025
abstreifen oder ganz unterordnen, das Skelett der wesentlichen pse_035.026
Merkmale der Begriffe beseitigen und die Fülle des pse_035.027
Bildes schaffen mit dem Heraufholen aus den Tiefen des pse_035.028
Gemüts. Der volle Gehalt des Wesenhaften wird lebendig, pse_035.029
nicht ein Begriffssystem.

pse_035.030
3. Das menschliche Werk. Die in der Sprache aufgebaute pse_035.031
Welt ist eine, die der Mensch aufgebaut hat. Aber im alltäglichen pse_035.032
verliert das Sprachgebilde diesen Bezug zum Menschlichen. pse_035.033
Was soll denn noch Menschliches an der Sprachäußerung pse_035.034
"zweimal zwei ist vier" liegen. Gewiß ist diese Einsicht pse_035.035
eine menschliche Leistung, aber in dieser Formel, jederzeit pse_035.036
gebrauchbar, ist diese menschliche Herkunft völlig verflüchtigt. pse_035.037
Anders im Sprachkunstwerk. Gewiß ist es zum pse_035.038
Erleben des Goethegedichts nicht nötig, zu wissen, wo, wann

pse_035.001
ein ganz bestimmtes Haus zu denken oder gar es anzusehen. pse_035.002
Auch wenn keines zu sehen ist, versteht er das Wort und pse_035.003
stellt sich dabei doch nicht anschaulich ein konkretes Haus vor. pse_035.004
Sondern das Wort paßt, wie man volkstümlich sagt, gleichsam pse_035.005
auf alle Häuser. Genauer gesehen: ich habe mit diesem pse_035.006
Wort ein Stück aus dem Erfahrungsstrom herausgegrenzt zu pse_035.007
einem nun geistig verfügbaren Gebilde, das jederzeit verwendbar pse_035.008
ist und ganz allgemeinen Bezug gewinnt: über die pse_035.009
konkrete Einmaligkeit ist das Wort hinausgehoben ins Allgemeine, pse_035.010
Dauernde. Das Wesenhafte des Hauses ist damit sprachlich pse_035.011
»aufgehoben«. Hier greifen wir eine der bedeutendsten pse_035.012
Leistungen der Sprache: Schaffung einer jederzeit verfügbaren pse_035.013
geistigen Wirklichkeit über den konkreten Einzelheiten pse_035.014
des Alltags, die uns aber erst zu Herren über diese pse_035.015
Einzelheiten macht. Im Sprachkunstwerk aber hat diese Verwesentlichung pse_035.016
eine ganz bestimmte Art. Im praktischen Leben pse_035.017
heißt sie: mit der Sprache ganz allgemein über alles reden pse_035.018
können, sich verständigen können. Gerade in der Verallgemeinerung pse_035.019
liegt die Möglichkeit der Verständigung. Im pse_035.020
wissenschaftlichen Sprechen und Schreiben heißt Verwesentlichung: pse_035.021
Einordnen in die allgemeinen, streng sogar in die pse_035.022
logischen Begriffe, in das System der Begriffe. Im Sprachkunstwerk pse_035.023
aber meint Verwesentlichung: ins volle Bild der pse_035.024
dauernden Wesenheiten heben, das zu einmalig Konkrete ganz pse_035.025
abstreifen oder ganz unterordnen, das Skelett der wesentlichen pse_035.026
Merkmale der Begriffe beseitigen und die Fülle des pse_035.027
Bildes schaffen mit dem Heraufholen aus den Tiefen des pse_035.028
Gemüts. Der volle Gehalt des Wesenhaften wird lebendig, pse_035.029
nicht ein Begriffssystem.

pse_035.030
3. Das menschliche Werk. Die in der Sprache aufgebaute pse_035.031
Welt ist eine, die der Mensch aufgebaut hat. Aber im alltäglichen pse_035.032
verliert das Sprachgebilde diesen Bezug zum Menschlichen. pse_035.033
Was soll denn noch Menschliches an der Sprachäußerung pse_035.034
»zweimal zwei ist vier« liegen. Gewiß ist diese Einsicht pse_035.035
eine menschliche Leistung, aber in dieser Formel, jederzeit pse_035.036
gebrauchbar, ist diese menschliche Herkunft völlig verflüchtigt. pse_035.037
Anders im Sprachkunstwerk. Gewiß ist es zum pse_035.038
Erleben des Goethegedichts nicht nötig, zu wissen, wo, wann

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0051" n="35"/><lb n="pse_035.001"/>
ein ganz bestimmtes Haus zu denken oder gar es anzusehen. <lb n="pse_035.002"/>
Auch wenn keines zu sehen ist, versteht er das Wort und <lb n="pse_035.003"/>
stellt sich dabei doch nicht anschaulich ein konkretes Haus vor. <lb n="pse_035.004"/>
Sondern das Wort paßt, wie man volkstümlich sagt, gleichsam <lb n="pse_035.005"/>
auf alle Häuser. Genauer gesehen: ich habe mit diesem <lb n="pse_035.006"/>
Wort ein Stück aus dem Erfahrungsstrom herausgegrenzt zu <lb n="pse_035.007"/>
einem nun geistig verfügbaren Gebilde, das jederzeit verwendbar <lb n="pse_035.008"/>
ist und ganz allgemeinen Bezug gewinnt: über die <lb n="pse_035.009"/>
konkrete Einmaligkeit ist das Wort hinausgehoben ins Allgemeine, <lb n="pse_035.010"/>
Dauernde. Das Wesenhafte des Hauses ist damit sprachlich <lb n="pse_035.011"/>
»aufgehoben«. Hier greifen wir eine der bedeutendsten <lb n="pse_035.012"/>
Leistungen der Sprache: Schaffung einer jederzeit verfügbaren <lb n="pse_035.013"/>
geistigen Wirklichkeit über den konkreten Einzelheiten <lb n="pse_035.014"/>
des Alltags, die uns aber erst zu Herren über diese <lb n="pse_035.015"/>
Einzelheiten macht. Im Sprachkunstwerk aber hat diese Verwesentlichung <lb n="pse_035.016"/>
eine ganz bestimmte Art. Im praktischen Leben <lb n="pse_035.017"/>
heißt sie: mit der Sprache ganz allgemein über alles reden <lb n="pse_035.018"/>
können, sich verständigen können. Gerade in der Verallgemeinerung <lb n="pse_035.019"/>
liegt die Möglichkeit der Verständigung. Im <lb n="pse_035.020"/>
wissenschaftlichen Sprechen und Schreiben heißt Verwesentlichung: <lb n="pse_035.021"/>
Einordnen in die allgemeinen, streng sogar in die <lb n="pse_035.022"/>
logischen Begriffe, in das System der Begriffe. Im Sprachkunstwerk <lb n="pse_035.023"/>
aber meint Verwesentlichung: ins volle Bild der <lb n="pse_035.024"/>
dauernden Wesenheiten heben, das zu einmalig Konkrete ganz <lb n="pse_035.025"/>
abstreifen oder ganz unterordnen, das Skelett der wesentlichen <lb n="pse_035.026"/>
Merkmale der Begriffe beseitigen und die Fülle des <lb n="pse_035.027"/>
Bildes schaffen mit dem Heraufholen aus den Tiefen des <lb n="pse_035.028"/>
Gemüts. Der volle Gehalt des Wesenhaften wird lebendig, <lb n="pse_035.029"/>
nicht ein Begriffssystem.</p>
            <p><lb n="pse_035.030"/>
3. Das menschliche Werk. Die in der Sprache aufgebaute <lb n="pse_035.031"/>
Welt ist eine, die der Mensch aufgebaut hat. Aber im alltäglichen <lb n="pse_035.032"/>
verliert das Sprachgebilde diesen Bezug zum Menschlichen. <lb n="pse_035.033"/>
Was soll denn noch Menschliches an der Sprachäußerung <lb n="pse_035.034"/>
»zweimal zwei ist vier« liegen. Gewiß ist diese Einsicht <lb n="pse_035.035"/>
eine menschliche Leistung, aber in dieser Formel, jederzeit <lb n="pse_035.036"/>
gebrauchbar, ist diese menschliche Herkunft völlig verflüchtigt. <lb n="pse_035.037"/>
Anders im Sprachkunstwerk. Gewiß ist es zum <lb n="pse_035.038"/>
Erleben des Goethegedichts nicht nötig, zu wissen, wo, wann
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0051] pse_035.001 ein ganz bestimmtes Haus zu denken oder gar es anzusehen. pse_035.002 Auch wenn keines zu sehen ist, versteht er das Wort und pse_035.003 stellt sich dabei doch nicht anschaulich ein konkretes Haus vor. pse_035.004 Sondern das Wort paßt, wie man volkstümlich sagt, gleichsam pse_035.005 auf alle Häuser. Genauer gesehen: ich habe mit diesem pse_035.006 Wort ein Stück aus dem Erfahrungsstrom herausgegrenzt zu pse_035.007 einem nun geistig verfügbaren Gebilde, das jederzeit verwendbar pse_035.008 ist und ganz allgemeinen Bezug gewinnt: über die pse_035.009 konkrete Einmaligkeit ist das Wort hinausgehoben ins Allgemeine, pse_035.010 Dauernde. Das Wesenhafte des Hauses ist damit sprachlich pse_035.011 »aufgehoben«. Hier greifen wir eine der bedeutendsten pse_035.012 Leistungen der Sprache: Schaffung einer jederzeit verfügbaren pse_035.013 geistigen Wirklichkeit über den konkreten Einzelheiten pse_035.014 des Alltags, die uns aber erst zu Herren über diese pse_035.015 Einzelheiten macht. Im Sprachkunstwerk aber hat diese Verwesentlichung pse_035.016 eine ganz bestimmte Art. Im praktischen Leben pse_035.017 heißt sie: mit der Sprache ganz allgemein über alles reden pse_035.018 können, sich verständigen können. Gerade in der Verallgemeinerung pse_035.019 liegt die Möglichkeit der Verständigung. Im pse_035.020 wissenschaftlichen Sprechen und Schreiben heißt Verwesentlichung: pse_035.021 Einordnen in die allgemeinen, streng sogar in die pse_035.022 logischen Begriffe, in das System der Begriffe. Im Sprachkunstwerk pse_035.023 aber meint Verwesentlichung: ins volle Bild der pse_035.024 dauernden Wesenheiten heben, das zu einmalig Konkrete ganz pse_035.025 abstreifen oder ganz unterordnen, das Skelett der wesentlichen pse_035.026 Merkmale der Begriffe beseitigen und die Fülle des pse_035.027 Bildes schaffen mit dem Heraufholen aus den Tiefen des pse_035.028 Gemüts. Der volle Gehalt des Wesenhaften wird lebendig, pse_035.029 nicht ein Begriffssystem. pse_035.030 3. Das menschliche Werk. Die in der Sprache aufgebaute pse_035.031 Welt ist eine, die der Mensch aufgebaut hat. Aber im alltäglichen pse_035.032 verliert das Sprachgebilde diesen Bezug zum Menschlichen. pse_035.033 Was soll denn noch Menschliches an der Sprachäußerung pse_035.034 »zweimal zwei ist vier« liegen. Gewiß ist diese Einsicht pse_035.035 eine menschliche Leistung, aber in dieser Formel, jederzeit pse_035.036 gebrauchbar, ist diese menschliche Herkunft völlig verflüchtigt. pse_035.037 Anders im Sprachkunstwerk. Gewiß ist es zum pse_035.038 Erleben des Goethegedichts nicht nötig, zu wissen, wo, wann

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/51
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/51>, abgerufen am 27.11.2024.