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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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wirken sich alle Kräfte der Sprache aus. Nicht immer alle pse_034.002
überhaupt, aber: nie bloß die Funktionen der Mitteilung von pse_034.003
etwas Außersprachlichem. 3. Dadurch ergibt sich, daß in der pse_034.004
Sprachkunst eben auch die tiefsten Seelenkräfte eingeformt pse_034.005
sind, d. h. aber das Gemüt, der Wesenskern des Menschen.

pse_034.006
Gerade diese drei Kräfte machen nun aus einem Sprachwerk pse_034.007
ein Sprachkunstwerk. Das Fundamentale beim Sprachkunstwerk pse_034.008
ist die schöpferische Weltgestaltung. Die Sprache pse_034.009
hat nicht die Aufgabe, etwas zu bezeichnen, sondern sie steht pse_034.010
hier noch in ihrer ursprünglichsten Funktion, aus Welterfahrung pse_034.011
und -erfassung eine neue, geistige Welt aufzubauen. pse_034.012
Daher haben die Merkmale jedes Sprachwerks hier im Sprachkunstwerk pse_034.013
ihre besondere Färbung. Diese Merkmale sind:

pse_034.014
1. Der Wirklichkeitsbezug. Er ist gegeben durch die pse_034.015
Sprache. Denn in der Sprache steckt ein rationales Element. pse_034.016
Jedes Wort ist ja geschaffen aus einem Bezug zur Wirklichkeit, pse_034.017
um ein Stück aus ihr zu umgrenzen und herauszuheben. pse_034.018
Ohne diesen Bezug zur Wirklichkeit hätten Worte gar keinen pse_034.019
Sinn. Aber es handelt sich nicht um Nachahmung der Wirklichkeit; pse_034.020
das Wort "Fenster" hat mit dem bezeichneten Gegenstand pse_034.021
nicht die geringste Ähnlichkeit. Sondern es ist Neugestaltung pse_034.022
mit anderen Mitteln, Neugestaltung in einem pse_034.023
geistigen Raum, der eben durch die Sprache geschaffen wird. pse_034.024
Im Sprachkunstwerk ist dieser Wirklichkeitsbezug nun bestimmter pse_034.025
Art. Er ist ästhetisch, nicht theoretisch oder rational pse_034.026
wie in der Sachdarstellung. Das grundlegende rationale pse_034.027
Element der sogenannten Wortbedeutung bleibt bestehen, pse_034.028
aber es genügt nicht mehr. Es werden Kräfte im Worte wirksam, pse_034.029
die in der Sachdarstellung als unnötig ausgeklammert pse_034.030
sind. In "Gipfel", "Ruhe", "schweigen" usw. in Goethes Gedicht pse_034.031
handelt es sich nicht um bloße Bezeichnungsgebilde, pse_034.032
gar um Begriffsträger im logischen Sinn, sondern um mehr, pse_034.033
das da aus dem Gesamt des Gedichts wieder lebendig wird. pse_034.034
Das für sich bestehende, geschlossene Gebilde bekommt pse_034.035
innere Fülle und seelischen Reichtum.

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2. Die Verwesentlichung. Wieder ist das ein Zug, der der pse_034.037
Sprache überhaupt, also jedem Sprachwerk eigen ist. Wenn pse_034.038
ich "Haus" sage, so ist der Hörer nicht mehr gezwungen, an

pse_034.001
wirken sich alle Kräfte der Sprache aus. Nicht immer alle pse_034.002
überhaupt, aber: nie bloß die Funktionen der Mitteilung von pse_034.003
etwas Außersprachlichem. 3. Dadurch ergibt sich, daß in der pse_034.004
Sprachkunst eben auch die tiefsten Seelenkräfte eingeformt pse_034.005
sind, d. h. aber das Gemüt, der Wesenskern des Menschen.

pse_034.006
Gerade diese drei Kräfte machen nun aus einem Sprachwerk pse_034.007
ein Sprachkunstwerk. Das Fundamentale beim Sprachkunstwerk pse_034.008
ist die schöpferische Weltgestaltung. Die Sprache pse_034.009
hat nicht die Aufgabe, etwas zu bezeichnen, sondern sie steht pse_034.010
hier noch in ihrer ursprünglichsten Funktion, aus Welterfahrung pse_034.011
und -erfassung eine neue, geistige Welt aufzubauen. pse_034.012
Daher haben die Merkmale jedes Sprachwerks hier im Sprachkunstwerk pse_034.013
ihre besondere Färbung. Diese Merkmale sind:

pse_034.014
1. Der Wirklichkeitsbezug. Er ist gegeben durch die pse_034.015
Sprache. Denn in der Sprache steckt ein rationales Element. pse_034.016
Jedes Wort ist ja geschaffen aus einem Bezug zur Wirklichkeit, pse_034.017
um ein Stück aus ihr zu umgrenzen und herauszuheben. pse_034.018
Ohne diesen Bezug zur Wirklichkeit hätten Worte gar keinen pse_034.019
Sinn. Aber es handelt sich nicht um Nachahmung der Wirklichkeit; pse_034.020
das Wort »Fenster« hat mit dem bezeichneten Gegenstand pse_034.021
nicht die geringste Ähnlichkeit. Sondern es ist Neugestaltung pse_034.022
mit anderen Mitteln, Neugestaltung in einem pse_034.023
geistigen Raum, der eben durch die Sprache geschaffen wird. pse_034.024
Im Sprachkunstwerk ist dieser Wirklichkeitsbezug nun bestimmter pse_034.025
Art. Er ist ästhetisch, nicht theoretisch oder rational pse_034.026
wie in der Sachdarstellung. Das grundlegende rationale pse_034.027
Element der sogenannten Wortbedeutung bleibt bestehen, pse_034.028
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handelt es sich nicht um bloße Bezeichnungsgebilde, pse_034.032
gar um Begriffsträger im logischen Sinn, sondern um mehr, pse_034.033
das da aus dem Gesamt des Gedichts wieder lebendig wird. pse_034.034
Das für sich bestehende, geschlossene Gebilde bekommt pse_034.035
innere Fülle und seelischen Reichtum.

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2. Die Verwesentlichung. Wieder ist das ein Zug, der der pse_034.037
Sprache überhaupt, also jedem Sprachwerk eigen ist. Wenn pse_034.038
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[34/0050] pse_034.001 wirken sich alle Kräfte der Sprache aus. Nicht immer alle pse_034.002 überhaupt, aber: nie bloß die Funktionen der Mitteilung von pse_034.003 etwas Außersprachlichem. 3. Dadurch ergibt sich, daß in der pse_034.004 Sprachkunst eben auch die tiefsten Seelenkräfte eingeformt pse_034.005 sind, d. h. aber das Gemüt, der Wesenskern des Menschen. pse_034.006 Gerade diese drei Kräfte machen nun aus einem Sprachwerk pse_034.007 ein Sprachkunstwerk. Das Fundamentale beim Sprachkunstwerk pse_034.008 ist die schöpferische Weltgestaltung. Die Sprache pse_034.009 hat nicht die Aufgabe, etwas zu bezeichnen, sondern sie steht pse_034.010 hier noch in ihrer ursprünglichsten Funktion, aus Welterfahrung pse_034.011 und -erfassung eine neue, geistige Welt aufzubauen. pse_034.012 Daher haben die Merkmale jedes Sprachwerks hier im Sprachkunstwerk pse_034.013 ihre besondere Färbung. Diese Merkmale sind: pse_034.014 1. Der Wirklichkeitsbezug. Er ist gegeben durch die pse_034.015 Sprache. Denn in der Sprache steckt ein rationales Element. pse_034.016 Jedes Wort ist ja geschaffen aus einem Bezug zur Wirklichkeit, pse_034.017 um ein Stück aus ihr zu umgrenzen und herauszuheben. pse_034.018 Ohne diesen Bezug zur Wirklichkeit hätten Worte gar keinen pse_034.019 Sinn. Aber es handelt sich nicht um Nachahmung der Wirklichkeit; pse_034.020 das Wort »Fenster« hat mit dem bezeichneten Gegenstand pse_034.021 nicht die geringste Ähnlichkeit. Sondern es ist Neugestaltung pse_034.022 mit anderen Mitteln, Neugestaltung in einem pse_034.023 geistigen Raum, der eben durch die Sprache geschaffen wird. pse_034.024 Im Sprachkunstwerk ist dieser Wirklichkeitsbezug nun bestimmter pse_034.025 Art. Er ist ästhetisch, nicht theoretisch oder rational pse_034.026 wie in der Sachdarstellung. Das grundlegende rationale pse_034.027 Element der sogenannten Wortbedeutung bleibt bestehen, pse_034.028 aber es genügt nicht mehr. Es werden Kräfte im Worte wirksam, pse_034.029 die in der Sachdarstellung als unnötig ausgeklammert pse_034.030 sind. In »Gipfel«, »Ruhe«, »schweigen« usw. in Goethes Gedicht pse_034.031 handelt es sich nicht um bloße Bezeichnungsgebilde, pse_034.032 gar um Begriffsträger im logischen Sinn, sondern um mehr, pse_034.033 das da aus dem Gesamt des Gedichts wieder lebendig wird. pse_034.034 Das für sich bestehende, geschlossene Gebilde bekommt pse_034.035 innere Fülle und seelischen Reichtum. pse_034.036 2. Die Verwesentlichung. Wieder ist das ein Zug, der der pse_034.037 Sprache überhaupt, also jedem Sprachwerk eigen ist. Wenn pse_034.038 ich »Haus« sage, so ist der Hörer nicht mehr gezwungen, an

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/50>, abgerufen am 23.04.2024.