Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_491.001
wie Paracelsus, Witiko und Leverkühn oder gar die pse_491.002
der großen Epen stellt, verliert diese Behauptung an Wert. pse_491.003
Oder man sieht als Kennzeichen epischer Figuren das Insichruhen pse_491.004
der Persönlichkeit, die Fülle der Erscheinungen und das pse_491.005
Fehlen einer Entwicklung. Aber das paßt nur fürs alte Epos, pse_491.006
nicht für die Ballade und Novelle und vor allem nicht für den pse_491.007
modernen Roman. Das sind also keine allgemeinen epischen pse_491.008
Eigenarten, sondern zeitgeschichtlich bedingte. Die Wandlung pse_491.009
der epischen Kunstform hängt mit dem Wandel des Menschenbildes pse_491.010
zusammen, und die Züge unseres neuen Menschenbildes pse_491.011
kehren in der epischen Kunst unserer Zeit wieder. Es bedingt pse_491.012
also nicht die epische Kunstform das Menschenbild, sondern pse_491.013
umgekehrt: Die Epik schafft für sich keine besondere Menschenart, pse_491.014
sondern formt das jeweilige Menschenbild der Zeit pse_491.015
in ihre Gestaltung ein. Wie reich allerdings die einzelne Figur pse_491.016
mit Zügen ausgestattet ist und wie diese Züge strukturiert pse_491.017
sind, das hängt von der epischen Art und vom einzelnen Dichter pse_491.018
ab.

pse_491.019
Die Welt eines epischen Werks entsteht vor allem durch pse_491.020
die mannigfachen Beziehungen der Personen der Dichtung pse_491.021
untereinander. Gerade hier bietet der Grundsatz des Erzählstandpunkts pse_491.022
reiche Möglichkeiten. So können Personen sogar pse_491.023
durch einen Akt des Erzählers wieder gelöscht werden, wie pse_491.024
das etwa der Erzähler Dante in C. F. Meyers "Hochzeit des pse_491.025
Mönchs" tut. Dem Drama sind solche Möglichkeiten kaum pse_491.026
gegeben. Die Gruppierung der epischen Figuren kann nach pse_491.027
drei Richtungen hin beobachtet werden. 1. Die Gruppierung pse_491.028
nach dem Lebensbezug. Gerade sie ist in der Epik reich ausgestaltbar, pse_491.029
da oft kleinste Winke genügen. Hier nur einige pse_491.030
Andeutungen. Es gibt einen Unterschied zwischen aktiven pse_491.031
und passiven Gestalten. Schon das Zahlenverhältnis zwischen pse_491.032
beiden bestimmt den Charakter der gestalteten Welt. Man pse_491.033
denke an eine Welt mit lauter Aktiven und an eine mit pse_491.034
lauter Passiven. Aber auch Art und Richtung dieser Haltungen pse_491.035
sind wichtig: der Aktive kann tyrannisch, als Charakter pse_491.036
führend, durch Leistung mitreißend sein usw. Der Passive pse_491.037
kann liebend hingegeben, ruhig dienend, unselbständig, pse_491.038
ängstlich, geschlagen, apathisch sein. Ein anderer Unterschied

pse_491.001
wie Paracelsus, Witiko und Leverkühn oder gar die pse_491.002
der großen Epen stellt, verliert diese Behauptung an Wert. pse_491.003
Oder man sieht als Kennzeichen epischer Figuren das Insichruhen pse_491.004
der Persönlichkeit, die Fülle der Erscheinungen und das pse_491.005
Fehlen einer Entwicklung. Aber das paßt nur fürs alte Epos, pse_491.006
nicht für die Ballade und Novelle und vor allem nicht für den pse_491.007
modernen Roman. Das sind also keine allgemeinen epischen pse_491.008
Eigenarten, sondern zeitgeschichtlich bedingte. Die Wandlung pse_491.009
der epischen Kunstform hängt mit dem Wandel des Menschenbildes pse_491.010
zusammen, und die Züge unseres neuen Menschenbildes pse_491.011
kehren in der epischen Kunst unserer Zeit wieder. Es bedingt pse_491.012
also nicht die epische Kunstform das Menschenbild, sondern pse_491.013
umgekehrt: Die Epik schafft für sich keine besondere Menschenart, pse_491.014
sondern formt das jeweilige Menschenbild der Zeit pse_491.015
in ihre Gestaltung ein. Wie reich allerdings die einzelne Figur pse_491.016
mit Zügen ausgestattet ist und wie diese Züge strukturiert pse_491.017
sind, das hängt von der epischen Art und vom einzelnen Dichter pse_491.018
ab.

pse_491.019
Die Welt eines epischen Werks entsteht vor allem durch pse_491.020
die mannigfachen Beziehungen der Personen der Dichtung pse_491.021
untereinander. Gerade hier bietet der Grundsatz des Erzählstandpunkts pse_491.022
reiche Möglichkeiten. So können Personen sogar pse_491.023
durch einen Akt des Erzählers wieder gelöscht werden, wie pse_491.024
das etwa der Erzähler Dante in C. F. Meyers »Hochzeit des pse_491.025
Mönchs« tut. Dem Drama sind solche Möglichkeiten kaum pse_491.026
gegeben. Die Gruppierung der epischen Figuren kann nach pse_491.027
drei Richtungen hin beobachtet werden. 1. Die Gruppierung pse_491.028
nach dem Lebensbezug. Gerade sie ist in der Epik reich ausgestaltbar, pse_491.029
da oft kleinste Winke genügen. Hier nur einige pse_491.030
Andeutungen. Es gibt einen Unterschied zwischen aktiven pse_491.031
und passiven Gestalten. Schon das Zahlenverhältnis zwischen pse_491.032
beiden bestimmt den Charakter der gestalteten Welt. Man pse_491.033
denke an eine Welt mit lauter Aktiven und an eine mit pse_491.034
lauter Passiven. Aber auch Art und Richtung dieser Haltungen pse_491.035
sind wichtig: der Aktive kann tyrannisch, als Charakter pse_491.036
führend, durch Leistung mitreißend sein usw. Der Passive pse_491.037
kann liebend hingegeben, ruhig dienend, unselbständig, pse_491.038
ängstlich, geschlagen, apathisch sein. Ein anderer Unterschied

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0507" n="491"/><lb n="pse_491.001"/>
wie Paracelsus, Witiko und Leverkühn oder gar die <lb n="pse_491.002"/>
der großen Epen stellt, verliert diese Behauptung an Wert. <lb n="pse_491.003"/>
Oder man sieht als Kennzeichen epischer Figuren das Insichruhen <lb n="pse_491.004"/>
der Persönlichkeit, die Fülle der Erscheinungen und das <lb n="pse_491.005"/>
Fehlen einer Entwicklung. Aber das paßt nur fürs alte Epos, <lb n="pse_491.006"/>
nicht für die Ballade und Novelle und vor allem nicht für den <lb n="pse_491.007"/>
modernen Roman. Das sind also keine allgemeinen epischen <lb n="pse_491.008"/>
Eigenarten, sondern zeitgeschichtlich bedingte. Die Wandlung <lb n="pse_491.009"/>
der epischen Kunstform hängt mit dem Wandel des Menschenbildes <lb n="pse_491.010"/>
zusammen, und die Züge unseres neuen Menschenbildes <lb n="pse_491.011"/>
kehren in der epischen Kunst unserer Zeit wieder. Es bedingt <lb n="pse_491.012"/>
also nicht die epische Kunstform das Menschenbild, sondern <lb n="pse_491.013"/>
umgekehrt: Die Epik schafft für sich keine besondere Menschenart, <lb n="pse_491.014"/>
sondern formt das jeweilige Menschenbild der Zeit <lb n="pse_491.015"/>
in ihre Gestaltung ein. Wie reich allerdings die einzelne Figur <lb n="pse_491.016"/>
mit Zügen ausgestattet ist und wie diese Züge strukturiert <lb n="pse_491.017"/>
sind, das hängt von der epischen Art und vom einzelnen Dichter <lb n="pse_491.018"/>
ab.</p>
              <p><lb n="pse_491.019"/>
Die Welt eines epischen Werks entsteht vor allem durch <lb n="pse_491.020"/>
die mannigfachen Beziehungen der Personen der Dichtung <lb n="pse_491.021"/>
untereinander. Gerade hier bietet der Grundsatz des Erzählstandpunkts <lb n="pse_491.022"/>
reiche Möglichkeiten. So können Personen sogar <lb n="pse_491.023"/>
durch einen Akt des Erzählers wieder gelöscht werden, wie <lb n="pse_491.024"/>
das etwa der Erzähler Dante in C. F. Meyers »Hochzeit des <lb n="pse_491.025"/>
Mönchs« tut. Dem Drama sind solche Möglichkeiten kaum <lb n="pse_491.026"/>
gegeben. Die Gruppierung der epischen Figuren kann nach <lb n="pse_491.027"/>
drei Richtungen hin beobachtet werden. 1. Die Gruppierung <lb n="pse_491.028"/>
nach dem Lebensbezug. Gerade sie ist in der Epik reich ausgestaltbar, <lb n="pse_491.029"/>
da oft kleinste Winke genügen. Hier nur einige <lb n="pse_491.030"/>
Andeutungen. Es gibt einen Unterschied zwischen aktiven <lb n="pse_491.031"/>
und passiven Gestalten. Schon das Zahlenverhältnis zwischen <lb n="pse_491.032"/>
beiden bestimmt den Charakter der gestalteten Welt. Man <lb n="pse_491.033"/>
denke an eine Welt mit lauter Aktiven und an eine mit <lb n="pse_491.034"/>
lauter Passiven. Aber auch Art und Richtung dieser Haltungen <lb n="pse_491.035"/>
sind wichtig: der Aktive kann tyrannisch, als Charakter <lb n="pse_491.036"/>
führend, durch Leistung mitreißend sein usw. Der Passive <lb n="pse_491.037"/>
kann liebend hingegeben, ruhig dienend, unselbständig, <lb n="pse_491.038"/>
ängstlich, geschlagen, apathisch sein. Ein anderer Unterschied
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[491/0507] pse_491.001 wie Paracelsus, Witiko und Leverkühn oder gar die pse_491.002 der großen Epen stellt, verliert diese Behauptung an Wert. pse_491.003 Oder man sieht als Kennzeichen epischer Figuren das Insichruhen pse_491.004 der Persönlichkeit, die Fülle der Erscheinungen und das pse_491.005 Fehlen einer Entwicklung. Aber das paßt nur fürs alte Epos, pse_491.006 nicht für die Ballade und Novelle und vor allem nicht für den pse_491.007 modernen Roman. Das sind also keine allgemeinen epischen pse_491.008 Eigenarten, sondern zeitgeschichtlich bedingte. Die Wandlung pse_491.009 der epischen Kunstform hängt mit dem Wandel des Menschenbildes pse_491.010 zusammen, und die Züge unseres neuen Menschenbildes pse_491.011 kehren in der epischen Kunst unserer Zeit wieder. Es bedingt pse_491.012 also nicht die epische Kunstform das Menschenbild, sondern pse_491.013 umgekehrt: Die Epik schafft für sich keine besondere Menschenart, pse_491.014 sondern formt das jeweilige Menschenbild der Zeit pse_491.015 in ihre Gestaltung ein. Wie reich allerdings die einzelne Figur pse_491.016 mit Zügen ausgestattet ist und wie diese Züge strukturiert pse_491.017 sind, das hängt von der epischen Art und vom einzelnen Dichter pse_491.018 ab. pse_491.019 Die Welt eines epischen Werks entsteht vor allem durch pse_491.020 die mannigfachen Beziehungen der Personen der Dichtung pse_491.021 untereinander. Gerade hier bietet der Grundsatz des Erzählstandpunkts pse_491.022 reiche Möglichkeiten. So können Personen sogar pse_491.023 durch einen Akt des Erzählers wieder gelöscht werden, wie pse_491.024 das etwa der Erzähler Dante in C. F. Meyers »Hochzeit des pse_491.025 Mönchs« tut. Dem Drama sind solche Möglichkeiten kaum pse_491.026 gegeben. Die Gruppierung der epischen Figuren kann nach pse_491.027 drei Richtungen hin beobachtet werden. 1. Die Gruppierung pse_491.028 nach dem Lebensbezug. Gerade sie ist in der Epik reich ausgestaltbar, pse_491.029 da oft kleinste Winke genügen. Hier nur einige pse_491.030 Andeutungen. Es gibt einen Unterschied zwischen aktiven pse_491.031 und passiven Gestalten. Schon das Zahlenverhältnis zwischen pse_491.032 beiden bestimmt den Charakter der gestalteten Welt. Man pse_491.033 denke an eine Welt mit lauter Aktiven und an eine mit pse_491.034 lauter Passiven. Aber auch Art und Richtung dieser Haltungen pse_491.035 sind wichtig: der Aktive kann tyrannisch, als Charakter pse_491.036 führend, durch Leistung mitreißend sein usw. Der Passive pse_491.037 kann liebend hingegeben, ruhig dienend, unselbständig, pse_491.038 ängstlich, geschlagen, apathisch sein. Ein anderer Unterschied

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/507
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/507>, abgerufen am 23.11.2024.