Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_484.001
Wir denken nicht an das Präsens, in dem über ein Erzählwerk pse_484.002
referiert wird. Diese Zeitform besteht zu Recht, da pse_484.003
ja das Erzählwerk immer gegenwärtig ist. Wir denken zunächst pse_484.004
an das sogenannte epische Präsens, wo also das ganze pse_484.005
Geschehen oder Teile davon im Präsens erzählt werden. Das pse_484.006
rückt solche Teile in besonders helle Beleuchtung, als ob sie pse_484.007
unmittelbar vor unseren Augen abliefen, oder am Schlusse pse_484.008
eines Erzählwerks kann damit der Übergang vom Vergangenen pse_484.009
in die dauernde Gegenwart angedeutet werden. Im personalen pse_484.010
Erzählen ist das epische Präsens durchaus möglich, pse_484.011
ungünstig wirkt es im auktorialen Erzählen, wenn das ganze pse_484.012
Werk in dieser Zeitform geschrieben ist. Anders ist das Präsens pse_484.013
an folgender Stelle der Letzten Mappe Stifters zu werten:

pse_484.014
Das Geschick fährt in einem goldenen Wagen. Was durch die pse_484.015
Räder niedergedrückt wird, daran liegt nichts. Wenn auf einen pse_484.016
Mann ein Felsen fällt oder der Blitz ihn tötet, und wenn er nun pse_484.017
das Alles nicht mehr wirken kann, was er sonst gewirkt hätte, pse_484.018
so wird es ein andrer tun. Wenn ein Volk dahin geht und zerstreut pse_484.019
wird, und das nicht erreichen kann, was es sonst erreicht hätte, pse_484.020
so wird ein anderes Volk ein Mehreres erreichen. Und wenn ganze pse_484.021
Ströme von Völkern dahingegangen sind, die Unsägliches und pse_484.022
Unzähliges getragen haben, so werden wieder neue Ströme kommen, pse_484.023
und Unsägliches und Unzähliges tragen, und wieder neue, pse_484.024
und wieder neue, und kein sterblicher Mensch kann sagen, wann pse_484.025
das enden wird.

pse_484.026

Diese Stelle führt über die Darstellung des Geschehens hinaus. pse_484.027
Das zeigt schon der feierliche Wortschatz. Diese Verwesentlichung pse_484.028
wird durch das Präsens noch unterstützt: hier hat es pse_484.029
seinen Wert, indem es ins Allgemeine, Außerzeitliche führt. pse_484.030
Auch daraus ist erkennbar, wie ungünstig das dauernde Präsens pse_484.031
einer Erzählung wirkt; denn dann heben sich solche ins pse_484.032
Wesenhafte gehende Betrachtungen nicht mehr ab (Werfels pse_484.033
"Lied von Bernadette"). Die Futura und Perfekta am Schluß pse_484.034
der gebrachten Stelle erzeugen die Gestaltung eines Zeitstroms pse_484.035
innerhalb des Bereiches des Überirdischen.

pse_484.036
Auch die heute sehr beliebten, aber in ihrer Art weit in die pse_484.037
Vergangenheit zurückreichenden utopischen Romane sind pse_484.038
meist im Präteritum erzählt. Aber man darf daraus nicht pse_484.039
schließen, daß das Präteritum nicht die Vergangenheit, sondern

pse_484.001
Wir denken nicht an das Präsens, in dem über ein Erzählwerk pse_484.002
referiert wird. Diese Zeitform besteht zu Recht, da pse_484.003
ja das Erzählwerk immer gegenwärtig ist. Wir denken zunächst pse_484.004
an das sogenannte epische Präsens, wo also das ganze pse_484.005
Geschehen oder Teile davon im Präsens erzählt werden. Das pse_484.006
rückt solche Teile in besonders helle Beleuchtung, als ob sie pse_484.007
unmittelbar vor unseren Augen abliefen, oder am Schlusse pse_484.008
eines Erzählwerks kann damit der Übergang vom Vergangenen pse_484.009
in die dauernde Gegenwart angedeutet werden. Im personalen pse_484.010
Erzählen ist das epische Präsens durchaus möglich, pse_484.011
ungünstig wirkt es im auktorialen Erzählen, wenn das ganze pse_484.012
Werk in dieser Zeitform geschrieben ist. Anders ist das Präsens pse_484.013
an folgender Stelle der Letzten Mappe Stifters zu werten:

pse_484.014
Das Geschick fährt in einem goldenen Wagen. Was durch die pse_484.015
Räder niedergedrückt wird, daran liegt nichts. Wenn auf einen pse_484.016
Mann ein Felsen fällt oder der Blitz ihn tötet, und wenn er nun pse_484.017
das Alles nicht mehr wirken kann, was er sonst gewirkt hätte, pse_484.018
so wird es ein andrer tun. Wenn ein Volk dahin geht und zerstreut pse_484.019
wird, und das nicht erreichen kann, was es sonst erreicht hätte, pse_484.020
so wird ein anderes Volk ein Mehreres erreichen. Und wenn ganze pse_484.021
Ströme von Völkern dahingegangen sind, die Unsägliches und pse_484.022
Unzähliges getragen haben, so werden wieder neue Ströme kommen, pse_484.023
und Unsägliches und Unzähliges tragen, und wieder neue, pse_484.024
und wieder neue, und kein sterblicher Mensch kann sagen, wann pse_484.025
das enden wird.

pse_484.026

Diese Stelle führt über die Darstellung des Geschehens hinaus. pse_484.027
Das zeigt schon der feierliche Wortschatz. Diese Verwesentlichung pse_484.028
wird durch das Präsens noch unterstützt: hier hat es pse_484.029
seinen Wert, indem es ins Allgemeine, Außerzeitliche führt. pse_484.030
Auch daraus ist erkennbar, wie ungünstig das dauernde Präsens pse_484.031
einer Erzählung wirkt; denn dann heben sich solche ins pse_484.032
Wesenhafte gehende Betrachtungen nicht mehr ab (Werfels pse_484.033
»Lied von Bernadette«). Die Futura und Perfekta am Schluß pse_484.034
der gebrachten Stelle erzeugen die Gestaltung eines Zeitstroms pse_484.035
innerhalb des Bereiches des Überirdischen.

pse_484.036
Auch die heute sehr beliebten, aber in ihrer Art weit in die pse_484.037
Vergangenheit zurückreichenden utopischen Romane sind pse_484.038
meist im Präteritum erzählt. Aber man darf daraus nicht pse_484.039
schließen, daß das Präteritum nicht die Vergangenheit, sondern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0500" n="484"/><lb n="pse_484.001"/>
Wir denken nicht an das Präsens, in dem über ein Erzählwerk <lb n="pse_484.002"/>
referiert wird. Diese Zeitform besteht zu Recht, da <lb n="pse_484.003"/>
ja das Erzählwerk immer gegenwärtig ist. Wir denken zunächst <lb n="pse_484.004"/>
an das sogenannte epische Präsens, wo also das ganze <lb n="pse_484.005"/>
Geschehen oder Teile davon im Präsens erzählt werden. Das <lb n="pse_484.006"/>
rückt solche Teile in besonders helle Beleuchtung, als ob sie <lb n="pse_484.007"/>
unmittelbar vor unseren Augen abliefen, oder am Schlusse <lb n="pse_484.008"/>
eines Erzählwerks kann damit der Übergang vom Vergangenen <lb n="pse_484.009"/>
in die dauernde Gegenwart angedeutet werden. Im personalen <lb n="pse_484.010"/>
Erzählen ist das epische Präsens durchaus möglich, <lb n="pse_484.011"/>
ungünstig wirkt es im auktorialen Erzählen, wenn das ganze <lb n="pse_484.012"/>
Werk in dieser Zeitform geschrieben ist. Anders ist das Präsens <lb n="pse_484.013"/>
an folgender Stelle der Letzten Mappe Stifters zu werten:</p>
              <p>
                <lb n="pse_484.014"/> <hi rendition="#aq">Das Geschick fährt in einem goldenen Wagen. Was durch die <lb n="pse_484.015"/>
Räder niedergedrückt wird, daran liegt nichts. Wenn auf einen <lb n="pse_484.016"/>
Mann ein Felsen fällt oder der Blitz ihn tötet, und wenn er nun <lb n="pse_484.017"/>
das Alles nicht mehr wirken kann, was er sonst gewirkt hätte, <lb n="pse_484.018"/>
so wird es ein andrer tun. Wenn ein Volk dahin geht und zerstreut <lb n="pse_484.019"/>
wird, und das nicht erreichen kann, was es sonst erreicht hätte, <lb n="pse_484.020"/>
so wird ein anderes Volk ein Mehreres erreichen. Und wenn ganze <lb n="pse_484.021"/>
Ströme von Völkern dahingegangen sind, die Unsägliches und <lb n="pse_484.022"/>
Unzähliges getragen haben, so werden wieder neue Ströme kommen, <lb n="pse_484.023"/>
und Unsägliches und Unzähliges tragen, und wieder neue, <lb n="pse_484.024"/>
und wieder neue, und kein sterblicher Mensch kann sagen, wann <lb n="pse_484.025"/>
das enden wird.</hi> </p>
              <lb n="pse_484.026"/>
              <p>Diese Stelle führt über die Darstellung des Geschehens hinaus. <lb n="pse_484.027"/>
Das zeigt schon der feierliche Wortschatz. Diese Verwesentlichung <lb n="pse_484.028"/>
wird durch das Präsens noch unterstützt: hier hat es <lb n="pse_484.029"/>
seinen Wert, indem es ins Allgemeine, Außerzeitliche führt. <lb n="pse_484.030"/>
Auch daraus ist erkennbar, wie ungünstig das dauernde Präsens <lb n="pse_484.031"/>
einer Erzählung wirkt; denn dann heben sich solche ins <lb n="pse_484.032"/>
Wesenhafte gehende Betrachtungen nicht mehr ab (Werfels <lb n="pse_484.033"/>
»Lied von Bernadette«). Die Futura und Perfekta am Schluß <lb n="pse_484.034"/>
der gebrachten Stelle erzeugen die Gestaltung eines Zeitstroms <lb n="pse_484.035"/>
innerhalb des Bereiches des Überirdischen.</p>
              <p><lb n="pse_484.036"/>
Auch die heute sehr beliebten, aber in ihrer Art weit in die <lb n="pse_484.037"/>
Vergangenheit zurückreichenden utopischen Romane sind <lb n="pse_484.038"/>
meist im Präteritum erzählt. Aber man darf daraus nicht <lb n="pse_484.039"/>
schließen, daß das Präteritum nicht die Vergangenheit, sondern
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[484/0500] pse_484.001 Wir denken nicht an das Präsens, in dem über ein Erzählwerk pse_484.002 referiert wird. Diese Zeitform besteht zu Recht, da pse_484.003 ja das Erzählwerk immer gegenwärtig ist. Wir denken zunächst pse_484.004 an das sogenannte epische Präsens, wo also das ganze pse_484.005 Geschehen oder Teile davon im Präsens erzählt werden. Das pse_484.006 rückt solche Teile in besonders helle Beleuchtung, als ob sie pse_484.007 unmittelbar vor unseren Augen abliefen, oder am Schlusse pse_484.008 eines Erzählwerks kann damit der Übergang vom Vergangenen pse_484.009 in die dauernde Gegenwart angedeutet werden. Im personalen pse_484.010 Erzählen ist das epische Präsens durchaus möglich, pse_484.011 ungünstig wirkt es im auktorialen Erzählen, wenn das ganze pse_484.012 Werk in dieser Zeitform geschrieben ist. Anders ist das Präsens pse_484.013 an folgender Stelle der Letzten Mappe Stifters zu werten: pse_484.014 Das Geschick fährt in einem goldenen Wagen. Was durch die pse_484.015 Räder niedergedrückt wird, daran liegt nichts. Wenn auf einen pse_484.016 Mann ein Felsen fällt oder der Blitz ihn tötet, und wenn er nun pse_484.017 das Alles nicht mehr wirken kann, was er sonst gewirkt hätte, pse_484.018 so wird es ein andrer tun. Wenn ein Volk dahin geht und zerstreut pse_484.019 wird, und das nicht erreichen kann, was es sonst erreicht hätte, pse_484.020 so wird ein anderes Volk ein Mehreres erreichen. Und wenn ganze pse_484.021 Ströme von Völkern dahingegangen sind, die Unsägliches und pse_484.022 Unzähliges getragen haben, so werden wieder neue Ströme kommen, pse_484.023 und Unsägliches und Unzähliges tragen, und wieder neue, pse_484.024 und wieder neue, und kein sterblicher Mensch kann sagen, wann pse_484.025 das enden wird. pse_484.026 Diese Stelle führt über die Darstellung des Geschehens hinaus. pse_484.027 Das zeigt schon der feierliche Wortschatz. Diese Verwesentlichung pse_484.028 wird durch das Präsens noch unterstützt: hier hat es pse_484.029 seinen Wert, indem es ins Allgemeine, Außerzeitliche führt. pse_484.030 Auch daraus ist erkennbar, wie ungünstig das dauernde Präsens pse_484.031 einer Erzählung wirkt; denn dann heben sich solche ins pse_484.032 Wesenhafte gehende Betrachtungen nicht mehr ab (Werfels pse_484.033 »Lied von Bernadette«). Die Futura und Perfekta am Schluß pse_484.034 der gebrachten Stelle erzeugen die Gestaltung eines Zeitstroms pse_484.035 innerhalb des Bereiches des Überirdischen. pse_484.036 Auch die heute sehr beliebten, aber in ihrer Art weit in die pse_484.037 Vergangenheit zurückreichenden utopischen Romane sind pse_484.038 meist im Präteritum erzählt. Aber man darf daraus nicht pse_484.039 schließen, daß das Präteritum nicht die Vergangenheit, sondern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/500
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/500>, abgerufen am 20.05.2024.