pse_460.001 Darstellung ein einfacher Geschehnisablauf. Zum Beispiel pse_460.002 "Der König starb und dann starb die Königin". Der pse_460.003 Ereignis- und Lebenszusammenhang ist ganz locker, sprachlich pse_460.004 kaum angedeutet. Sobald es aber heißt: "Der König starb pse_460.005 und dann starb die Königin aus Kummer darüber", entsteht pse_460.006 ein Sinnzusammenhang: das zweite Ereignis steht in sinnvollem pse_460.007 Zusammenhang mit dem ersten. Es muß nicht notwendig pse_460.008 nur ein ursächlicher sein. Es kann ein höherer ahnbar pse_460.009 werden, eine Art Schicksalsfügung. Wir nennen eine solche pse_460.010 schon geschlossenere Darstellung, in der ein sinnvoller Zusammenhang pse_460.011 zwischen den Gliedern herausgearbeitet ist, pse_460.012 Fabel, der Engländer spricht von plot. Noch weiter entfernt pse_460.013 sich der Erzähler vom Alltagsleben und seinem Ablauf, wenn pse_460.014 er seiner Erzählung ein bestimmtes Schema, einen Model der pse_460.015 Gesamtanlage zugrundelegt, etwa Rahmenform, besondere pse_460.016 Zeitenschichtung. (Der Engländer spricht hier von pattern.) pse_460.017 Vom Standpunkt des realen Außenlebens kann das wie eine pse_460.018 Vergewaltigung ausschauen. Hier beginnt eben die selbständige pse_460.019 künstlerische Gestaltung. Sie kann noch weiter an Eigenart pse_460.020 gewinnen, wenn rational schwer faßbare, aber im ästhetischen pse_460.021 Erleben deutlich spürbare geheime Gestaltgesetze pse_460.022 wirksam werden.
pse_460.023 So erscheint also das Erzählen als künstlerische Form genügend pse_460.024 vom bloßen Sachbericht abgehoben. Erst dadurch pse_460.025 kann ein solcher selber wieder Glied in einer Erzählung werden. pse_460.026 Ein weiterer wichtiger Zug des Erzählens, der sich aus pse_460.027 dem Vorangehenden eindeutig ergibt, ist der bestimmte Bezug pse_460.028 zwischen Erzähler und Hörer. Diese Lage war in frühen pse_460.029 Zeiten eindeutig. Die Homerischen Epen, die altgermanischen pse_460.030 Heldenlieder und die Ritterromane wurden wirklich in einem pse_460.031 Zuhörerkreis vorgetragen. Diese Situation ist so urtümlich, pse_460.032 daß sie später vielfach als Kunstform in die Erzählkunst eingebaut pse_460.033 wurde, besonders in der Rahmentechnik seit der altitalienischen pse_460.034 Novellendichtung. Heute allerdings ist die Lage pse_460.035 ganz anders: zwischen dem Autor eines Romans und dem pse_460.036 Leser, der zufällig ein Exemplar des Buches in die Hand bekommt, pse_460.037 besteht keine menschliche Beziehung mehr. Die pse_460.038 Autorenabende, wo ein Dichter aus seinen Werken selber vorliest,
pse_460.001 Darstellung ein einfacher Geschehnisablauf. Zum Beispiel pse_460.002 »Der König starb und dann starb die Königin«. Der pse_460.003 Ereignis- und Lebenszusammenhang ist ganz locker, sprachlich pse_460.004 kaum angedeutet. Sobald es aber heißt: »Der König starb pse_460.005 und dann starb die Königin aus Kummer darüber«, entsteht pse_460.006 ein Sinnzusammenhang: das zweite Ereignis steht in sinnvollem pse_460.007 Zusammenhang mit dem ersten. Es muß nicht notwendig pse_460.008 nur ein ursächlicher sein. Es kann ein höherer ahnbar pse_460.009 werden, eine Art Schicksalsfügung. Wir nennen eine solche pse_460.010 schon geschlossenere Darstellung, in der ein sinnvoller Zusammenhang pse_460.011 zwischen den Gliedern herausgearbeitet ist, pse_460.012 Fabel, der Engländer spricht von plot. Noch weiter entfernt pse_460.013 sich der Erzähler vom Alltagsleben und seinem Ablauf, wenn pse_460.014 er seiner Erzählung ein bestimmtes Schema, einen Model der pse_460.015 Gesamtanlage zugrundelegt, etwa Rahmenform, besondere pse_460.016 Zeitenschichtung. (Der Engländer spricht hier von pattern.) pse_460.017 Vom Standpunkt des realen Außenlebens kann das wie eine pse_460.018 Vergewaltigung ausschauen. Hier beginnt eben die selbständige pse_460.019 künstlerische Gestaltung. Sie kann noch weiter an Eigenart pse_460.020 gewinnen, wenn rational schwer faßbare, aber im ästhetischen pse_460.021 Erleben deutlich spürbare geheime Gestaltgesetze pse_460.022 wirksam werden.
pse_460.023 So erscheint also das Erzählen als künstlerische Form genügend pse_460.024 vom bloßen Sachbericht abgehoben. Erst dadurch pse_460.025 kann ein solcher selber wieder Glied in einer Erzählung werden. pse_460.026 Ein weiterer wichtiger Zug des Erzählens, der sich aus pse_460.027 dem Vorangehenden eindeutig ergibt, ist der bestimmte Bezug pse_460.028 zwischen Erzähler und Hörer. Diese Lage war in frühen pse_460.029 Zeiten eindeutig. Die Homerischen Epen, die altgermanischen pse_460.030 Heldenlieder und die Ritterromane wurden wirklich in einem pse_460.031 Zuhörerkreis vorgetragen. Diese Situation ist so urtümlich, pse_460.032 daß sie später vielfach als Kunstform in die Erzählkunst eingebaut pse_460.033 wurde, besonders in der Rahmentechnik seit der altitalienischen pse_460.034 Novellendichtung. Heute allerdings ist die Lage pse_460.035 ganz anders: zwischen dem Autor eines Romans und dem pse_460.036 Leser, der zufällig ein Exemplar des Buches in die Hand bekommt, pse_460.037 besteht keine menschliche Beziehung mehr. Die pse_460.038 Autorenabende, wo ein Dichter aus seinen Werken selber vorliest,
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»Der König starb und dann starb die Königin«. Der pse_460.003
Ereignis- und Lebenszusammenhang ist ganz locker, sprachlich pse_460.004
kaum angedeutet. Sobald es aber heißt: »Der König starb pse_460.005
und dann starb die Königin aus Kummer darüber«, entsteht pse_460.006
ein Sinnzusammenhang: das zweite Ereignis steht in sinnvollem pse_460.007
Zusammenhang mit dem ersten. Es muß nicht notwendig pse_460.008
nur ein ursächlicher sein. Es kann ein höherer ahnbar pse_460.009
werden, eine Art Schicksalsfügung. Wir nennen eine solche pse_460.010
schon geschlossenere Darstellung, in der ein sinnvoller Zusammenhang pse_460.011
zwischen den Gliedern herausgearbeitet ist, pse_460.012
Fabel, der Engländer spricht von plot. Noch weiter entfernt pse_460.013
sich der Erzähler vom Alltagsleben und seinem Ablauf, wenn pse_460.014
er seiner Erzählung ein bestimmtes Schema, einen Model der pse_460.015
Gesamtanlage zugrundelegt, etwa Rahmenform, besondere pse_460.016
Zeitenschichtung. (Der Engländer spricht hier von pattern.) pse_460.017
Vom Standpunkt des realen Außenlebens kann das wie eine pse_460.018
Vergewaltigung ausschauen. Hier beginnt eben die selbständige pse_460.019
künstlerische Gestaltung. Sie kann noch weiter an Eigenart pse_460.020
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Erleben deutlich spürbare geheime Gestaltgesetze pse_460.022
wirksam werden.
pse_460.023
So erscheint also das Erzählen als künstlerische Form genügend pse_460.024
vom bloßen Sachbericht abgehoben. Erst dadurch pse_460.025
kann ein solcher selber wieder Glied in einer Erzählung werden. pse_460.026
Ein weiterer wichtiger Zug des Erzählens, der sich aus pse_460.027
dem Vorangehenden eindeutig ergibt, ist der bestimmte Bezug pse_460.028
zwischen Erzähler und Hörer. Diese Lage war in frühen pse_460.029
Zeiten eindeutig. Die Homerischen Epen, die altgermanischen pse_460.030
Heldenlieder und die Ritterromane wurden wirklich in einem pse_460.031
Zuhörerkreis vorgetragen. Diese Situation ist so urtümlich, pse_460.032
daß sie später vielfach als Kunstform in die Erzählkunst eingebaut pse_460.033
wurde, besonders in der Rahmentechnik seit der altitalienischen pse_460.034
Novellendichtung. Heute allerdings ist die Lage pse_460.035
ganz anders: zwischen dem Autor eines Romans und dem pse_460.036
Leser, der zufällig ein Exemplar des Buches in die Hand bekommt, pse_460.037
besteht keine menschliche Beziehung mehr. Die pse_460.038
Autorenabende, wo ein Dichter aus seinen Werken selber vorliest,
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/476>, abgerufen am 22.11.2024.
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