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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Sinne des 19. Jahrhunderts (Sprache als Vehikel) fragen, wie pse_031.002
dieses Gedicht im Innern Goethes ausgeschaut habe, bevor er pse_031.003
ihm diese Sprachform gegeben habe. Im Sprachwerk ist alles pse_031.004
gegeben, und außer ihm ist nichts. In diesen Klängen und pse_031.005
Rhythmen, in diesen Wortgehalten und Satzbewegungen pse_031.006
wird die ganze Sehnsucht des Menschen nach Ruhe und das pse_031.007
Gefühl der nahenden Lösung Gestalt, ohne diese Sprachform pse_031.008
haben wir nichts und mit ihr alles. Wir "brauchen" sonst pse_031.009
nichts, aber wir werden innerlich ergriffen. Vom konkreten pse_031.010
Sinn jedes Wortes -- natürlich muß man einmal gelernt und pse_031.011
wahrgenommen haben, was ein Gipfel und ein Vogel ist -- pse_031.012
bis in die tiefsten seelischen Schwingungen, die unser Innerstes pse_031.013
ergreifen, ist alles da: "Erst in der Spannung zwischen gestalthaft pse_031.014
Herausgestelltem und dem Dunkel des Urgrunds, aus pse_031.015
dem jenes hervorgeht, vermag dichterische Sprache ihre pse_031.016
Fülle und den ihr eigentümlichen Rhythmus zu erreichen, der pse_031.017
sie so scharf abhebt von der Sprache als bloßem Mitteilungs- pse_031.018
und Ausdrucks-Vehikel" (Allemann).

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Wir halten den Polizeibericht und Goethes Gedicht nebeneinander: pse_031.020
dort Mitteilung einer Sache, die ganz außerhalb der pse_031.021
Sprache liegt; hier Gestaltung eines Gebildes nur in der pse_031.022
Sprache und mit ihren Kräften, das als sprachliches und nicht pse_031.023
mit der Wendung auf etwas außerhalb der Sprache wirkt und pse_031.024
unser Tiefstes ergreift. Wir nennen diese zwei gegensätzlichen pse_031.025
Sprachwerke Sachdarstellung und Sprachkunstwerk. Die Struktur pse_031.026
der Sprache, die ein solches Kunstwerk schafft, nennen pse_031.027
wir die Sprachkunst. Wir vermeiden für den Augenblick pse_031.028
noch den Ausdruck Dichtung, obwohl diese Verse Goethes pse_031.029
reinste Dichtung sind.

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Nun aber müssen mögliche Mißverständnisse ausgeschaltet pse_031.031
werden. Es gibt nicht zwei Sprachen, Sachdarstellung und pse_031.032
Sprachkunst, jedes der Goetheworte könnte in einer ganz pse_031.033
nüchternen Sachdarstellung stehen, und warum ein Polizeibericht pse_031.034
nicht in einem Roman. Auch wird es in der denkbaren pse_031.035
Fülle von Sprachwerken wenige reine Sachdarstellungen und pse_031.036
reine Gedichte geben. Der Augenzeugenbericht eines erregten pse_031.037
Zuschauers des Unfalls wird schon auch manches in der Wortwahl, pse_031.038
im Rhythmus und im Satzablauf von der inneren

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Sinne des 19. Jahrhunderts (Sprache als Vehikel) fragen, wie pse_031.002
dieses Gedicht im Innern Goethes ausgeschaut habe, bevor er pse_031.003
ihm diese Sprachform gegeben habe. Im Sprachwerk ist alles pse_031.004
gegeben, und außer ihm ist nichts. In diesen Klängen und pse_031.005
Rhythmen, in diesen Wortgehalten und Satzbewegungen pse_031.006
wird die ganze Sehnsucht des Menschen nach Ruhe und das pse_031.007
Gefühl der nahenden Lösung Gestalt, ohne diese Sprachform pse_031.008
haben wir nichts und mit ihr alles. Wir »brauchen« sonst pse_031.009
nichts, aber wir werden innerlich ergriffen. Vom konkreten pse_031.010
Sinn jedes Wortes — natürlich muß man einmal gelernt und pse_031.011
wahrgenommen haben, was ein Gipfel und ein Vogel ist — pse_031.012
bis in die tiefsten seelischen Schwingungen, die unser Innerstes pse_031.013
ergreifen, ist alles da: »Erst in der Spannung zwischen gestalthaft pse_031.014
Herausgestelltem und dem Dunkel des Urgrunds, aus pse_031.015
dem jenes hervorgeht, vermag dichterische Sprache ihre pse_031.016
Fülle und den ihr eigentümlichen Rhythmus zu erreichen, der pse_031.017
sie so scharf abhebt von der Sprache als bloßem Mitteilungs- pse_031.018
und Ausdrucks-Vehikel« (Allemann).

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Wir halten den Polizeibericht und Goethes Gedicht nebeneinander: pse_031.020
dort Mitteilung einer Sache, die ganz außerhalb der pse_031.021
Sprache liegt; hier Gestaltung eines Gebildes nur in der pse_031.022
Sprache und mit ihren Kräften, das als sprachliches und nicht pse_031.023
mit der Wendung auf etwas außerhalb der Sprache wirkt und pse_031.024
unser Tiefstes ergreift. Wir nennen diese zwei gegensätzlichen pse_031.025
Sprachwerke Sachdarstellung und Sprachkunstwerk. Die Struktur pse_031.026
der Sprache, die ein solches Kunstwerk schafft, nennen pse_031.027
wir die Sprachkunst. Wir vermeiden für den Augenblick pse_031.028
noch den Ausdruck Dichtung, obwohl diese Verse Goethes pse_031.029
reinste Dichtung sind.

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Nun aber müssen mögliche Mißverständnisse ausgeschaltet pse_031.031
werden. Es gibt nicht zwei Sprachen, Sachdarstellung und pse_031.032
Sprachkunst, jedes der Goetheworte könnte in einer ganz pse_031.033
nüchternen Sachdarstellung stehen, und warum ein Polizeibericht pse_031.034
nicht in einem Roman. Auch wird es in der denkbaren pse_031.035
Fülle von Sprachwerken wenige reine Sachdarstellungen und pse_031.036
reine Gedichte geben. Der Augenzeugenbericht eines erregten pse_031.037
Zuschauers des Unfalls wird schon auch manches in der Wortwahl, pse_031.038
im Rhythmus und im Satzablauf von der inneren

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[31/0047] pse_031.001 Sinne des 19. Jahrhunderts (Sprache als Vehikel) fragen, wie pse_031.002 dieses Gedicht im Innern Goethes ausgeschaut habe, bevor er pse_031.003 ihm diese Sprachform gegeben habe. Im Sprachwerk ist alles pse_031.004 gegeben, und außer ihm ist nichts. In diesen Klängen und pse_031.005 Rhythmen, in diesen Wortgehalten und Satzbewegungen pse_031.006 wird die ganze Sehnsucht des Menschen nach Ruhe und das pse_031.007 Gefühl der nahenden Lösung Gestalt, ohne diese Sprachform pse_031.008 haben wir nichts und mit ihr alles. Wir »brauchen« sonst pse_031.009 nichts, aber wir werden innerlich ergriffen. Vom konkreten pse_031.010 Sinn jedes Wortes — natürlich muß man einmal gelernt und pse_031.011 wahrgenommen haben, was ein Gipfel und ein Vogel ist — pse_031.012 bis in die tiefsten seelischen Schwingungen, die unser Innerstes pse_031.013 ergreifen, ist alles da: »Erst in der Spannung zwischen gestalthaft pse_031.014 Herausgestelltem und dem Dunkel des Urgrunds, aus pse_031.015 dem jenes hervorgeht, vermag dichterische Sprache ihre pse_031.016 Fülle und den ihr eigentümlichen Rhythmus zu erreichen, der pse_031.017 sie so scharf abhebt von der Sprache als bloßem Mitteilungs- pse_031.018 und Ausdrucks-Vehikel« (Allemann). pse_031.019 Wir halten den Polizeibericht und Goethes Gedicht nebeneinander: pse_031.020 dort Mitteilung einer Sache, die ganz außerhalb der pse_031.021 Sprache liegt; hier Gestaltung eines Gebildes nur in der pse_031.022 Sprache und mit ihren Kräften, das als sprachliches und nicht pse_031.023 mit der Wendung auf etwas außerhalb der Sprache wirkt und pse_031.024 unser Tiefstes ergreift. Wir nennen diese zwei gegensätzlichen pse_031.025 Sprachwerke Sachdarstellung und Sprachkunstwerk. Die Struktur pse_031.026 der Sprache, die ein solches Kunstwerk schafft, nennen pse_031.027 wir die Sprachkunst. Wir vermeiden für den Augenblick pse_031.028 noch den Ausdruck Dichtung, obwohl diese Verse Goethes pse_031.029 reinste Dichtung sind. pse_031.030 Nun aber müssen mögliche Mißverständnisse ausgeschaltet pse_031.031 werden. Es gibt nicht zwei Sprachen, Sachdarstellung und pse_031.032 Sprachkunst, jedes der Goetheworte könnte in einer ganz pse_031.033 nüchternen Sachdarstellung stehen, und warum ein Polizeibericht pse_031.034 nicht in einem Roman. Auch wird es in der denkbaren pse_031.035 Fülle von Sprachwerken wenige reine Sachdarstellungen und pse_031.036 reine Gedichte geben. Der Augenzeugenbericht eines erregten pse_031.037 Zuschauers des Unfalls wird schon auch manches in der Wortwahl, pse_031.038 im Rhythmus und im Satzablauf von der inneren

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/47>, abgerufen am 25.04.2024.