pse_452.001 Simonides auf: ut pictura poesis. Erst Lessing hat bekanntlich pse_452.002 im "Laokoon" dieser wirklich nachahmenden Poesie den Boden pse_452.003 unter den Füßen weggezogen. Seine Begründung ist heute pse_452.004 durch eine vertiefte Sprachauffassung zu ergänzen und zu verbessern. pse_452.005 Sprache ist selbst schon eine geistige Welt in geprägter pse_452.006 Form, Gestaltungen in ihr müssen auf dieser Tatsache aufbauen. pse_452.007 Beschreibungen sind also genau genommen Neubau pse_452.008 von Wirklichkeiten aus den Kräften der Sprache, aber so, daß pse_452.009 die außersprachliche Wirklichkeit damit gemeint ist. Freilich pse_452.010 tritt -- und das ist das Entscheidende -- auch die persönliche pse_452.011 Stellungnahme dazu; schon dadurch, daß eine Beschreibung pse_452.012 sprachlich gestaltet ist, wird sie Beschreibung von einer bestimmten pse_452.013 Sicht aus, eben der, die durch die Sprache vorgeprägt pse_452.014 ist. Es ist also nicht nötig, daß jede Beschreibung eines pse_452.015 Ruhenden in Vorgang aufgelöst wird, wie es Lessing fordert. pse_452.016 Eine Beschreibung formt auch die Einstellung des Beschreibenden pse_452.017 mit. In dichterischer Form vertieft sich noch diese pse_452.018 Einstellung. Dazu kann auch in echt ästhetischer Weise der pse_452.019 Durchblick durch das Beschriebene auf ein Höheres gelingen. pse_452.020 Das ist schon bei der bekannten Beschreibung des Enzians in pse_452.021 Albrecht Hallers "Alpen" der Fall:
pse_452.022
Dort ragt das hohe Haupt vom edeln Enzianepse_452.023 Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin,pse_452.024 Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne,pse_452.025 Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn;pse_452.026 Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,pse_452.027 Türmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,pse_452.028 Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen,pse_452.029 Strahlt von dem lichten Blitz von feuchtem Diamant.pse_452.030 Gerechtestes Gesetz! Daß Kraft sich Zier vermähle,pse_452.031 In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.
pse_452.032
Die ersten vier Verse gestalten in einem klaren Bild die Stellung pse_452.033 des Enzians: es ist menschliche Sicht, der Dichter zieht pse_452.034 das Bild in sein menschliches Erfahren von Gemeinschaft pse_452.035 hinein und sieht es von hier aus. Auch in den späteren Versen pse_452.036 schaffen die Vorgangsworte Bewegung und Leben. Das pse_452.037 letzte Verspaar öffnet, zwar etwas ungeschickt, den Blick auf pse_452.038 Tieferes: auf das Geheimnis des Zusammenklangs von Leib pse_452.039 und Seele: der Enzian wird zum Symbol dieser Bindung. In
pse_452.001 Simonides auf: ut pictura poesis. Erst Lessing hat bekanntlich pse_452.002 im »Laokoon« dieser wirklich nachahmenden Poesie den Boden pse_452.003 unter den Füßen weggezogen. Seine Begründung ist heute pse_452.004 durch eine vertiefte Sprachauffassung zu ergänzen und zu verbessern. pse_452.005 Sprache ist selbst schon eine geistige Welt in geprägter pse_452.006 Form, Gestaltungen in ihr müssen auf dieser Tatsache aufbauen. pse_452.007 Beschreibungen sind also genau genommen Neubau pse_452.008 von Wirklichkeiten aus den Kräften der Sprache, aber so, daß pse_452.009 die außersprachliche Wirklichkeit damit gemeint ist. Freilich pse_452.010 tritt — und das ist das Entscheidende — auch die persönliche pse_452.011 Stellungnahme dazu; schon dadurch, daß eine Beschreibung pse_452.012 sprachlich gestaltet ist, wird sie Beschreibung von einer bestimmten pse_452.013 Sicht aus, eben der, die durch die Sprache vorgeprägt pse_452.014 ist. Es ist also nicht nötig, daß jede Beschreibung eines pse_452.015 Ruhenden in Vorgang aufgelöst wird, wie es Lessing fordert. pse_452.016 Eine Beschreibung formt auch die Einstellung des Beschreibenden pse_452.017 mit. In dichterischer Form vertieft sich noch diese pse_452.018 Einstellung. Dazu kann auch in echt ästhetischer Weise der pse_452.019 Durchblick durch das Beschriebene auf ein Höheres gelingen. pse_452.020 Das ist schon bei der bekannten Beschreibung des Enzians in pse_452.021 Albrecht Hallers »Alpen« der Fall:
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Dort ragt das hohe Haupt vom edeln Enzianepse_452.023 Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin,pse_452.024 Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne,pse_452.025 Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn;pse_452.026 Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,pse_452.027 Türmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,pse_452.028 Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen,pse_452.029 Strahlt von dem lichten Blitz von feuchtem Diamant.pse_452.030 Gerechtestes Gesetz! Daß Kraft sich Zier vermähle,pse_452.031 In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.
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Die ersten vier Verse gestalten in einem klaren Bild die Stellung pse_452.033 des Enzians: es ist menschliche Sicht, der Dichter zieht pse_452.034 das Bild in sein menschliches Erfahren von Gemeinschaft pse_452.035 hinein und sieht es von hier aus. Auch in den späteren Versen pse_452.036 schaffen die Vorgangsworte Bewegung und Leben. Das pse_452.037 letzte Verspaar öffnet, zwar etwas ungeschickt, den Blick auf pse_452.038 Tieferes: auf das Geheimnis des Zusammenklangs von Leib pse_452.039 und Seele: der Enzian wird zum Symbol dieser Bindung. In
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Albrecht Hallers »Alpen« der Fall:
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Gerechtestes Gesetz! Daß Kraft sich Zier vermähle, pse_452.031
In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.
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Die ersten vier Verse gestalten in einem klaren Bild die Stellung pse_452.033
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/468>, abgerufen am 22.11.2024.
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