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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Besonders eng sind die Beziehungen zwischen Didaktik pse_443.002
und Epik. Man hat z. B. Vergils "Georgica", auch Hesiods pse_443.003
"Werke und Tage" als Epen bezeichnet. Und tatsächlich hat pse_443.004
Vergil seinem Werk im Aufbau von vier Büchern einen gewissen pse_443.005
durchgehenden Gang gegeben, der es in die Nähe pse_443.006
eines gestalteten epischen Vorgangs rückt. Auch die Fabeln pse_443.007
mit ihren angehängten oder doch zumindest aufdringlichen pse_443.008
moralischen Lehren gehören hierher, ebenso die Parabeln. pse_443.009
Tatsächlich bemühen sich echte Dichter oft, ein zu Lehrendes, pse_443.010
das, was sie zeigen und vor uns aufbauen wollen, in einen Vorgang pse_443.011
umzuformen oder zumindest mit Vorgangshaftem so pse_443.012
oft als möglich zu durchsetzen. Wir werden das noch näher pse_443.013
betrachten. Aber auch hier ist wieder das Entscheidende die pse_443.014
Gewichtigkeit des Vorgangshaften in der Gesamtstruktur der pse_443.015
Dichtung. Wenn das Erzählen eines deutlich abgehobenen pse_443.016
und für sich bestehenden Vorgangs sprachlich und künstlerisch pse_443.017
im Vordergrund steht, wenn sich das Lehrhafte nur als pse_443.018
Zusatz ergibt, können wir unbedingt von epischer Dichtung pse_443.019
sprechen. Also auch hier gibt es deutliche Grenzfälle und pse_443.020
Übergänge.

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Auch zur dramatischen Dichtung gibt es Bezüge. Wenn pse_443.022
man mit allen Mitteln lehren will, wird man auch die künstlerischen pse_443.023
nicht ausscheiden, und der angespannten, beschwörenden pse_443.024
Rhetorik liegt die Bühnendarstellung besonders: denn pse_443.025
von der Bühne herab, auf erhobenem Stand mitten unter pse_443.026
Zuhörern ist eindrückliches Lehren immer am besten durchzuführen: pse_443.027
darum die Katheder in Schulen und auf Hochschulen, pse_443.028
die Kanzeln in der Kirche und die ersten primitiven pse_443.029
Podien der Wanderbühnen. Vom Drauflosreden ist es nicht pse_443.030
mehr weit zum Agieren -- man denke an temperamentvolle pse_443.031
Straßenprediger im angloamerikanischen Raum. So ist das pse_443.032
heutige russische Lehrstück aufzufassen, wo eben durch das pse_443.033
Hinstellen von handelnden Personen am wirkungsvollsten pse_443.034
Propaganda getrieben werden kann. Am großartigsten hat pse_443.035
das Ordensdrama des 17. Jahrhunderts, besonders das Jesuitentheater pse_443.036
die Möglichkeiten ausgestaltet, in dramatischen Aufführungen pse_443.037
die Lehren des Christentums den Zuhörern nahezubringen. pse_443.038
Hier allerdings ist die künstlerische Gestaltung so

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Besonders eng sind die Beziehungen zwischen Didaktik pse_443.002
und Epik. Man hat z. B. Vergils »Georgica«, auch Hesiods pse_443.003
»Werke und Tage« als Epen bezeichnet. Und tatsächlich hat pse_443.004
Vergil seinem Werk im Aufbau von vier Büchern einen gewissen pse_443.005
durchgehenden Gang gegeben, der es in die Nähe pse_443.006
eines gestalteten epischen Vorgangs rückt. Auch die Fabeln pse_443.007
mit ihren angehängten oder doch zumindest aufdringlichen pse_443.008
moralischen Lehren gehören hierher, ebenso die Parabeln. pse_443.009
Tatsächlich bemühen sich echte Dichter oft, ein zu Lehrendes, pse_443.010
das, was sie zeigen und vor uns aufbauen wollen, in einen Vorgang pse_443.011
umzuformen oder zumindest mit Vorgangshaftem so pse_443.012
oft als möglich zu durchsetzen. Wir werden das noch näher pse_443.013
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Gewichtigkeit des Vorgangshaften in der Gesamtstruktur der pse_443.015
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und für sich bestehenden Vorgangs sprachlich und künstlerisch pse_443.017
im Vordergrund steht, wenn sich das Lehrhafte nur als pse_443.018
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sprechen. Also auch hier gibt es deutliche Grenzfälle und pse_443.020
Übergänge.

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Auch zur dramatischen Dichtung gibt es Bezüge. Wenn pse_443.022
man mit allen Mitteln lehren will, wird man auch die künstlerischen pse_443.023
nicht ausscheiden, und der angespannten, beschwörenden pse_443.024
Rhetorik liegt die Bühnendarstellung besonders: denn pse_443.025
von der Bühne herab, auf erhobenem Stand mitten unter pse_443.026
Zuhörern ist eindrückliches Lehren immer am besten durchzuführen: pse_443.027
darum die Katheder in Schulen und auf Hochschulen, pse_443.028
die Kanzeln in der Kirche und die ersten primitiven pse_443.029
Podien der Wanderbühnen. Vom Drauflosreden ist es nicht pse_443.030
mehr weit zum Agieren — man denke an temperamentvolle pse_443.031
Straßenprediger im angloamerikanischen Raum. So ist das pse_443.032
heutige russische Lehrstück aufzufassen, wo eben durch das pse_443.033
Hinstellen von handelnden Personen am wirkungsvollsten pse_443.034
Propaganda getrieben werden kann. Am großartigsten hat pse_443.035
das Ordensdrama des 17. Jahrhunderts, besonders das Jesuitentheater pse_443.036
die Möglichkeiten ausgestaltet, in dramatischen Aufführungen pse_443.037
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[443/0459] pse_443.001 Besonders eng sind die Beziehungen zwischen Didaktik pse_443.002 und Epik. Man hat z. B. Vergils »Georgica«, auch Hesiods pse_443.003 »Werke und Tage« als Epen bezeichnet. Und tatsächlich hat pse_443.004 Vergil seinem Werk im Aufbau von vier Büchern einen gewissen pse_443.005 durchgehenden Gang gegeben, der es in die Nähe pse_443.006 eines gestalteten epischen Vorgangs rückt. Auch die Fabeln pse_443.007 mit ihren angehängten oder doch zumindest aufdringlichen pse_443.008 moralischen Lehren gehören hierher, ebenso die Parabeln. pse_443.009 Tatsächlich bemühen sich echte Dichter oft, ein zu Lehrendes, pse_443.010 das, was sie zeigen und vor uns aufbauen wollen, in einen Vorgang pse_443.011 umzuformen oder zumindest mit Vorgangshaftem so pse_443.012 oft als möglich zu durchsetzen. Wir werden das noch näher pse_443.013 betrachten. Aber auch hier ist wieder das Entscheidende die pse_443.014 Gewichtigkeit des Vorgangshaften in der Gesamtstruktur der pse_443.015 Dichtung. Wenn das Erzählen eines deutlich abgehobenen pse_443.016 und für sich bestehenden Vorgangs sprachlich und künstlerisch pse_443.017 im Vordergrund steht, wenn sich das Lehrhafte nur als pse_443.018 Zusatz ergibt, können wir unbedingt von epischer Dichtung pse_443.019 sprechen. Also auch hier gibt es deutliche Grenzfälle und pse_443.020 Übergänge. pse_443.021 Auch zur dramatischen Dichtung gibt es Bezüge. Wenn pse_443.022 man mit allen Mitteln lehren will, wird man auch die künstlerischen pse_443.023 nicht ausscheiden, und der angespannten, beschwörenden pse_443.024 Rhetorik liegt die Bühnendarstellung besonders: denn pse_443.025 von der Bühne herab, auf erhobenem Stand mitten unter pse_443.026 Zuhörern ist eindrückliches Lehren immer am besten durchzuführen: pse_443.027 darum die Katheder in Schulen und auf Hochschulen, pse_443.028 die Kanzeln in der Kirche und die ersten primitiven pse_443.029 Podien der Wanderbühnen. Vom Drauflosreden ist es nicht pse_443.030 mehr weit zum Agieren — man denke an temperamentvolle pse_443.031 Straßenprediger im angloamerikanischen Raum. So ist das pse_443.032 heutige russische Lehrstück aufzufassen, wo eben durch das pse_443.033 Hinstellen von handelnden Personen am wirkungsvollsten pse_443.034 Propaganda getrieben werden kann. Am großartigsten hat pse_443.035 das Ordensdrama des 17. Jahrhunderts, besonders das Jesuitentheater pse_443.036 die Möglichkeiten ausgestaltet, in dramatischen Aufführungen pse_443.037 die Lehren des Christentums den Zuhörern nahezubringen. pse_443.038 Hier allerdings ist die künstlerische Gestaltung so

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/459>, abgerufen am 28.08.2024.