Ein Regenstrom aus Felsenrissen,pse_421.002 Er kommt mit Donners Ungetüm,pse_421.003 Bergtrümmer folgen seinen Güssen,pse_421.004 Und Eichen stürzen unter ihm;pse_421.005 Erstaunt, mit wollustvollem Grausen,pse_421.006 Hört ihn der Wanderer und lauscht,pse_421.007 Er hört die Flut vom Felsen brausen,pse_421.008 Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:pse_421.009 So strömen des Gesanges Wellenpse_421.010 Hervor aus nie entdeckten Quellen.
pse_421.011 (Schiller, Macht des Gesanges)
pse_421.012 Zwei Sonderformen des Gesanges seien hier eingefügt. Zunächst pse_421.013 die Chorische Poesie. Auch sie ist an eine Gemeinschaft pse_421.014 gebunden, aber sie erwächst weniger aus gemeinsamer pse_421.015 Seelengrundlage als aus gemeinsamer Verrichtung: feierliche pse_421.016 Umzüge, Trauerfeiern, Siegesfeste, Dankfeste usw. Hier treten pse_421.017 das Rhythmische und die Sprachkunst stärker hervor als die pse_421.018 Melodie. Man könnte je nach den Verrichtungen kultische pse_421.019 Gemeinschaftsdichtung, Arbeitslied und Reigenlied unterscheiden. pse_421.020 Dann die Elegie. Der Ausdruck ist nicht ganz eindeutig. pse_421.021 Denn im Altertum wurde jedes Gedicht im elegischen pse_421.022 Versmaß so genannt, also im Distichon, das Hexameter und pse_421.023 Pentameter zur Einheit verbindet, soweit es nicht ein Epigramm pse_421.024 war. Mit der Zeit jedoch wurde immer mehr der pse_421.025 Ausdruck einer bestimmten Trauer als Kennzeichen der Elegie pse_421.026 genommen. Die Dichter selber gehen in der Bezeichnung pse_421.027 ihrer Gedichte nicht einheitlich vor. Wir denken hier an Gedichte pse_421.028 der sanften Trauer, nicht der leidenschaftlichen, pathetischen, pse_421.029 feierlichen. Aber auch diese sanfte Trauer wird nicht pse_421.030 liedhaft gestaltet: die Form ist nicht mehr schlicht, und schon pse_421.031 dadurch wird ein solches Gedicht in eine gewisse höhere pse_421.032 Sphäre emporgehoben. Auch die sanfte Trauer kann uns erheben pse_421.033 und ergreifen. Zu welcher religiös gestimmten Höhe pse_421.034 sie emporführen kann, zeigen die Schlußverse einer der reinsten pse_421.035 Elegien deutscher Sprache, der "Nänie" von Schiller:
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Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,pse_421.037 Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.pse_421.038 Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,pse_421.039 Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
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Ein Regenstrom aus Felsenrissen,pse_421.002 Er kommt mit Donners Ungetüm,pse_421.003 Bergtrümmer folgen seinen Güssen,pse_421.004 Und Eichen stürzen unter ihm;pse_421.005 Erstaunt, mit wollustvollem Grausen,pse_421.006 Hört ihn der Wanderer und lauscht,pse_421.007 Er hört die Flut vom Felsen brausen,pse_421.008 Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:pse_421.009 So strömen des Gesanges Wellenpse_421.010 Hervor aus nie entdeckten Quellen.
pse_421.011 (Schiller, Macht des Gesanges)
pse_421.012 Zwei Sonderformen des Gesanges seien hier eingefügt. Zunächst pse_421.013 die Chorische Poesie. Auch sie ist an eine Gemeinschaft pse_421.014 gebunden, aber sie erwächst weniger aus gemeinsamer pse_421.015 Seelengrundlage als aus gemeinsamer Verrichtung: feierliche pse_421.016 Umzüge, Trauerfeiern, Siegesfeste, Dankfeste usw. Hier treten pse_421.017 das Rhythmische und die Sprachkunst stärker hervor als die pse_421.018 Melodie. Man könnte je nach den Verrichtungen kultische pse_421.019 Gemeinschaftsdichtung, Arbeitslied und Reigenlied unterscheiden. pse_421.020 Dann die Elegie. Der Ausdruck ist nicht ganz eindeutig. pse_421.021 Denn im Altertum wurde jedes Gedicht im elegischen pse_421.022 Versmaß so genannt, also im Distichon, das Hexameter und pse_421.023 Pentameter zur Einheit verbindet, soweit es nicht ein Epigramm pse_421.024 war. Mit der Zeit jedoch wurde immer mehr der pse_421.025 Ausdruck einer bestimmten Trauer als Kennzeichen der Elegie pse_421.026 genommen. Die Dichter selber gehen in der Bezeichnung pse_421.027 ihrer Gedichte nicht einheitlich vor. Wir denken hier an Gedichte pse_421.028 der sanften Trauer, nicht der leidenschaftlichen, pathetischen, pse_421.029 feierlichen. Aber auch diese sanfte Trauer wird nicht pse_421.030 liedhaft gestaltet: die Form ist nicht mehr schlicht, und schon pse_421.031 dadurch wird ein solches Gedicht in eine gewisse höhere pse_421.032 Sphäre emporgehoben. Auch die sanfte Trauer kann uns erheben pse_421.033 und ergreifen. Zu welcher religiös gestimmten Höhe pse_421.034 sie emporführen kann, zeigen die Schlußverse einer der reinsten pse_421.035 Elegien deutscher Sprache, der »Nänie« von Schiller:
pse_421.036
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,pse_421.037 Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.pse_421.038 Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,pse_421.039 Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
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Bergtrümmer folgen seinen Güssen, pse_421.004
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Hervor aus nie entdeckten Quellen.
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(Schiller, Macht des Gesanges)
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Zwei Sonderformen des Gesanges seien hier eingefügt. Zunächst pse_421.013
die Chorische Poesie. Auch sie ist an eine Gemeinschaft pse_421.014
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Seelengrundlage als aus gemeinsamer Verrichtung: feierliche pse_421.016
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Gemeinschaftsdichtung, Arbeitslied und Reigenlied unterscheiden. pse_421.020
Dann die Elegie. Der Ausdruck ist nicht ganz eindeutig. pse_421.021
Denn im Altertum wurde jedes Gedicht im elegischen pse_421.022
Versmaß so genannt, also im Distichon, das Hexameter und pse_421.023
Pentameter zur Einheit verbindet, soweit es nicht ein Epigramm pse_421.024
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/437>, abgerufen am 22.11.2024.
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