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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Chaos ins Geistige hinein. Es ist die andere Seite des Grotesken: pse_392.002
in grotesker Kunst wird das Chaotische selbst geistig bewältigt, pse_392.003
indem es geformt, in künstlerische Gebilde umgesetzt pse_392.004
wird; in der reinen Formkunst -- die nichts mit der epigonalen pse_392.005
Reimerei etwa der Münchner im 19. Jahrhundert zu pse_392.006
tun hat -- findet der Geist einen Halt gegenüber dem Andringen pse_392.007
des Chaotischen und Dämonischen. Darin sieht ja auch pse_392.008
Gottfried Benn Eigenart und Sinn des Gedichts: es ist ein pse_392.009
Kunstprodukt, das höchste Anforderungen stellt, höchste pse_392.010
Formvollendung fordert und gerade damit dem Geist Halt, pse_392.011
Kraft und Auftrieb gibt.

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Diese Strenge der Gestaltung hat solche moderne Lyrik, pse_392.013
aber nicht nur sie allein, wie immer wieder im Blick auf eine pse_392.014
mehrtausendjährige Geschichte der Lyrik betont werden pse_392.015
muß, gemeinsam mit einer Form, die man Dinggedicht nennt. pse_392.016
Wir stellen zuerst zwei Gedichte gegenüber:

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Auf eine Lampe pse_392.018

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, pse_392.019
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, pse_392.020
Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. pse_392.021
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand pse_392.022
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, pse_392.023
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. pse_392.024
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist pse_392.025
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form -- pse_392.026
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? pse_392.027
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
(Mörike)

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Der römische Brunnen pse_392.029

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt pse_392.030
Er voll der Marmorschale Rund, pse_392.031
Die, sich verschleiernd, überfließt pse_392.032
In einer zweiten Schale Grund; pse_392.033
Die zweite gibt, sie wird zu reich, pse_392.034
Der dritten wallend ihre Flut, pse_392.035
Und jede nimmt und gibt zugleich pse_392.036
Und strömt und ruht.
(C. F. Meyer)

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Das erste Gedicht ist von vornherein dadurch gekennzeichnet, pse_392.038
daß der Mensch den Gegenstand anspricht und im Ansprechen pse_392.039
zugleich seine Freude über ihn ausdrückt. Es wird also pse_392.040
gleich zu Beginn der menschliche Bezug zum Ding eindringlich

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Chaos ins Geistige hinein. Es ist die andere Seite des Grotesken: pse_392.002
in grotesker Kunst wird das Chaotische selbst geistig bewältigt, pse_392.003
indem es geformt, in künstlerische Gebilde umgesetzt pse_392.004
wird; in der reinen Formkunst — die nichts mit der epigonalen pse_392.005
Reimerei etwa der Münchner im 19. Jahrhundert zu pse_392.006
tun hat — findet der Geist einen Halt gegenüber dem Andringen pse_392.007
des Chaotischen und Dämonischen. Darin sieht ja auch pse_392.008
Gottfried Benn Eigenart und Sinn des Gedichts: es ist ein pse_392.009
Kunstprodukt, das höchste Anforderungen stellt, höchste pse_392.010
Formvollendung fordert und gerade damit dem Geist Halt, pse_392.011
Kraft und Auftrieb gibt.

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Diese Strenge der Gestaltung hat solche moderne Lyrik, pse_392.013
aber nicht nur sie allein, wie immer wieder im Blick auf eine pse_392.014
mehrtausendjährige Geschichte der Lyrik betont werden pse_392.015
muß, gemeinsam mit einer Form, die man Dinggedicht nennt. pse_392.016
Wir stellen zuerst zwei Gedichte gegenüber:

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Auf eine Lampe pse_392.018

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, pse_392.019
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, pse_392.020
Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. pse_392.021
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand pse_392.022
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, pse_392.023
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. pse_392.024
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist pse_392.025
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form — pse_392.026
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? pse_392.027
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
(Mörike)

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Der römische Brunnen pse_392.029

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt pse_392.030
Er voll der Marmorschale Rund, pse_392.031
Die, sich verschleiernd, überfließt pse_392.032
In einer zweiten Schale Grund; pse_392.033
Die zweite gibt, sie wird zu reich, pse_392.034
Der dritten wallend ihre Flut, pse_392.035
Und jede nimmt und gibt zugleich pse_392.036
Und strömt und ruht.
(C. F. Meyer)

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Das erste Gedicht ist von vornherein dadurch gekennzeichnet, pse_392.038
daß der Mensch den Gegenstand anspricht und im Ansprechen pse_392.039
zugleich seine Freude über ihn ausdrückt. Es wird also pse_392.040
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[392/0408] pse_392.001 Chaos ins Geistige hinein. Es ist die andere Seite des Grotesken: pse_392.002 in grotesker Kunst wird das Chaotische selbst geistig bewältigt, pse_392.003 indem es geformt, in künstlerische Gebilde umgesetzt pse_392.004 wird; in der reinen Formkunst — die nichts mit der epigonalen pse_392.005 Reimerei etwa der Münchner im 19. Jahrhundert zu pse_392.006 tun hat — findet der Geist einen Halt gegenüber dem Andringen pse_392.007 des Chaotischen und Dämonischen. Darin sieht ja auch pse_392.008 Gottfried Benn Eigenart und Sinn des Gedichts: es ist ein pse_392.009 Kunstprodukt, das höchste Anforderungen stellt, höchste pse_392.010 Formvollendung fordert und gerade damit dem Geist Halt, pse_392.011 Kraft und Auftrieb gibt. pse_392.012 Diese Strenge der Gestaltung hat solche moderne Lyrik, pse_392.013 aber nicht nur sie allein, wie immer wieder im Blick auf eine pse_392.014 mehrtausendjährige Geschichte der Lyrik betont werden pse_392.015 muß, gemeinsam mit einer Form, die man Dinggedicht nennt. pse_392.016 Wir stellen zuerst zwei Gedichte gegenüber: pse_392.017 Auf eine Lampe pse_392.018 Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, pse_392.019 An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, pse_392.020 Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. pse_392.021 Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand pse_392.022 Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, pse_392.023 Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. pse_392.024 Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist pse_392.025 Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form — pse_392.026 Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? pse_392.027 Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. (Mörike) pse_392.028 Der römische Brunnen pse_392.029 Aufsteigt der Strahl und fallend gießt pse_392.030 Er voll der Marmorschale Rund, pse_392.031 Die, sich verschleiernd, überfließt pse_392.032 In einer zweiten Schale Grund; pse_392.033 Die zweite gibt, sie wird zu reich, pse_392.034 Der dritten wallend ihre Flut, pse_392.035 Und jede nimmt und gibt zugleich pse_392.036 Und strömt und ruht. (C. F. Meyer) pse_392.037 Das erste Gedicht ist von vornherein dadurch gekennzeichnet, pse_392.038 daß der Mensch den Gegenstand anspricht und im Ansprechen pse_392.039 zugleich seine Freude über ihn ausdrückt. Es wird also pse_392.040 gleich zu Beginn der menschliche Bezug zum Ding eindringlich

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/408>, abgerufen am 22.11.2024.