Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_353.001
und Lyrischen gehört. Es handelt sich hier auch wieder pse_353.002
um innerste Haltungen, die lebendig werden in der Weltbegegnung pse_353.003
und sich in sprachlicher Gestaltung auswirken.

pse_353.004
Es wird selten vorkommen, daß diese Haltungen in einer pse_353.005
Dichtung rein für sich vorkommen, daß eine Dichtung also pse_353.006
entweder nur Verinnern, Betrachten, Zuschauen oder Mitgerissensein pse_353.007
ist. Es ist sogar zu erwarten, daß die möglichen pse_353.008
Grundhaltungen in irgendeiner Weise immer alle vorhanden pse_353.009
sind. Das Dramatische setzt das Epische voraus, denn etwas pse_353.010
muß angeschaut werden, wenn Spannung entstehen soll. pse_353.011
Auch das Epische setzt bis zu einem gewissen Grad das pse_353.012
Lyrische voraus: Nur wenn der Erzähler mit dem Angeschauten pse_353.013
und also uns Vorgestellten gefühlsmäßig eins war, kann pse_353.014
er es so vorstellen, daß es uns nicht gleichgültig sei. Das Zusammenwirken pse_353.015
der drei Haltungen wird aber immer strukturiert pse_353.016
sein, d. h. eine wird den Kern bilden, die anderen pse_353.017
werden sich in bestimmter Weise einfügen.

pse_353.018
Aus diesen in einer Dichtung immer vorhandenen menschlichen pse_353.019
Grundhaltungen erklärt sich nun aber eine weitere pse_353.020
Seite am Dasein der Dichtung: ihre Wirkung. Denn dadurch, pse_353.021
daß der schaffende Mensch als Mensch überhaupt an der pse_353.022
Weltbegegnung, die zur Dichtung führt, beteiligt ist, geht pse_353.023
dieses Menschliche auch in die Dichtung ein und kann von pse_353.024
ihr ausstrahlen auf die, die sie erleben. Hier treffen wir wieder pse_353.025
auf den einen wesentlichen Zug an jedem dichterischen Werk: pse_353.026
auf den Einbau des Menschlichen. Das ist bei der dramatischen pse_353.027
Haltung des Pathos und der Problematik ohne weiteres klar, pse_353.028
denn wir haben ja betont, daß in der pathetischen Haltung pse_353.029
ein gegenüberstehender Mensch verlangt wird und alles pse_353.030
Angespanntsein auf ein Ziel zu treibt zu derselben Anspannung. pse_353.031
Aber auch die anderen Haltungen regen menschlich pse_353.032
an. In der künstlerischen Gestaltung des Verschmelzens mit pse_353.033
einem Stück Welt in der lyrischen Haltung wird ja dieses pse_353.034
Einssein selbst lebendig und in den Werten der künstlerischen pse_353.035
Form uns unmittelbar zugänglich. Und das Zuschauen des pse_353.036
Dichters in der epischen Haltung, der dabei die breite Fülle pse_353.037
des Vergangenen entfaltet, macht auch uns zu Zuschauenden. pse_353.038
Freilich sind zwischen den Wirkungsmöglichkeiten der einzelnen

pse_353.001
und Lyrischen gehört. Es handelt sich hier auch wieder pse_353.002
um innerste Haltungen, die lebendig werden in der Weltbegegnung pse_353.003
und sich in sprachlicher Gestaltung auswirken.

pse_353.004
Es wird selten vorkommen, daß diese Haltungen in einer pse_353.005
Dichtung rein für sich vorkommen, daß eine Dichtung also pse_353.006
entweder nur Verinnern, Betrachten, Zuschauen oder Mitgerissensein pse_353.007
ist. Es ist sogar zu erwarten, daß die möglichen pse_353.008
Grundhaltungen in irgendeiner Weise immer alle vorhanden pse_353.009
sind. Das Dramatische setzt das Epische voraus, denn etwas pse_353.010
muß angeschaut werden, wenn Spannung entstehen soll. pse_353.011
Auch das Epische setzt bis zu einem gewissen Grad das pse_353.012
Lyrische voraus: Nur wenn der Erzähler mit dem Angeschauten pse_353.013
und also uns Vorgestellten gefühlsmäßig eins war, kann pse_353.014
er es so vorstellen, daß es uns nicht gleichgültig sei. Das Zusammenwirken pse_353.015
der drei Haltungen wird aber immer strukturiert pse_353.016
sein, d. h. eine wird den Kern bilden, die anderen pse_353.017
werden sich in bestimmter Weise einfügen.

pse_353.018
Aus diesen in einer Dichtung immer vorhandenen menschlichen pse_353.019
Grundhaltungen erklärt sich nun aber eine weitere pse_353.020
Seite am Dasein der Dichtung: ihre Wirkung. Denn dadurch, pse_353.021
daß der schaffende Mensch als Mensch überhaupt an der pse_353.022
Weltbegegnung, die zur Dichtung führt, beteiligt ist, geht pse_353.023
dieses Menschliche auch in die Dichtung ein und kann von pse_353.024
ihr ausstrahlen auf die, die sie erleben. Hier treffen wir wieder pse_353.025
auf den einen wesentlichen Zug an jedem dichterischen Werk: pse_353.026
auf den Einbau des Menschlichen. Das ist bei der dramatischen pse_353.027
Haltung des Pathos und der Problematik ohne weiteres klar, pse_353.028
denn wir haben ja betont, daß in der pathetischen Haltung pse_353.029
ein gegenüberstehender Mensch verlangt wird und alles pse_353.030
Angespanntsein auf ein Ziel zu treibt zu derselben Anspannung. pse_353.031
Aber auch die anderen Haltungen regen menschlich pse_353.032
an. In der künstlerischen Gestaltung des Verschmelzens mit pse_353.033
einem Stück Welt in der lyrischen Haltung wird ja dieses pse_353.034
Einssein selbst lebendig und in den Werten der künstlerischen pse_353.035
Form uns unmittelbar zugänglich. Und das Zuschauen des pse_353.036
Dichters in der epischen Haltung, der dabei die breite Fülle pse_353.037
des Vergangenen entfaltet, macht auch uns zu Zuschauenden. pse_353.038
Freilich sind zwischen den Wirkungsmöglichkeiten der einzelnen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0369" n="353"/><lb n="pse_353.001"/>
und Lyrischen gehört. Es handelt sich hier auch wieder <lb n="pse_353.002"/>
um innerste Haltungen, die lebendig werden in der Weltbegegnung <lb n="pse_353.003"/>
und sich in sprachlicher Gestaltung auswirken.</p>
            <p><lb n="pse_353.004"/>
Es wird selten vorkommen, daß diese Haltungen in einer <lb n="pse_353.005"/>
Dichtung rein für sich vorkommen, daß eine Dichtung also <lb n="pse_353.006"/>
entweder nur Verinnern, Betrachten, Zuschauen oder Mitgerissensein <lb n="pse_353.007"/>
ist. Es ist sogar zu erwarten, daß die möglichen <lb n="pse_353.008"/>
Grundhaltungen in irgendeiner Weise immer alle vorhanden <lb n="pse_353.009"/>
sind. Das Dramatische setzt das Epische voraus, denn etwas <lb n="pse_353.010"/>
muß angeschaut werden, wenn Spannung entstehen soll. <lb n="pse_353.011"/>
Auch das Epische setzt bis zu einem gewissen Grad das <lb n="pse_353.012"/>
Lyrische voraus: Nur wenn der Erzähler mit dem Angeschauten <lb n="pse_353.013"/>
und also uns Vorgestellten gefühlsmäßig eins war, kann <lb n="pse_353.014"/>
er es so vorstellen, daß es uns nicht gleichgültig sei. Das Zusammenwirken <lb n="pse_353.015"/>
der drei Haltungen wird aber immer strukturiert <lb n="pse_353.016"/>
sein, d. h. eine wird den Kern bilden, die anderen <lb n="pse_353.017"/>
werden sich in bestimmter Weise einfügen.</p>
            <p><lb n="pse_353.018"/>
Aus diesen in einer Dichtung immer vorhandenen menschlichen <lb n="pse_353.019"/>
Grundhaltungen erklärt sich nun aber eine weitere <lb n="pse_353.020"/>
Seite am Dasein der Dichtung: ihre Wirkung. Denn dadurch, <lb n="pse_353.021"/>
daß der schaffende Mensch als Mensch überhaupt an der <lb n="pse_353.022"/>
Weltbegegnung, die zur Dichtung führt, beteiligt ist, geht <lb n="pse_353.023"/>
dieses Menschliche auch in die Dichtung ein und kann von <lb n="pse_353.024"/>
ihr ausstrahlen auf die, die sie erleben. Hier treffen wir wieder <lb n="pse_353.025"/>
auf den einen wesentlichen Zug an jedem dichterischen Werk: <lb n="pse_353.026"/>
auf den Einbau des Menschlichen. Das ist bei der dramatischen <lb n="pse_353.027"/>
Haltung des Pathos und der Problematik ohne weiteres klar, <lb n="pse_353.028"/>
denn wir haben ja betont, daß in der pathetischen Haltung <lb n="pse_353.029"/>
ein gegenüberstehender Mensch verlangt wird und alles <lb n="pse_353.030"/>
Angespanntsein auf ein Ziel zu treibt zu derselben Anspannung. <lb n="pse_353.031"/>
Aber auch die anderen Haltungen regen menschlich <lb n="pse_353.032"/>
an. In der künstlerischen Gestaltung des Verschmelzens mit <lb n="pse_353.033"/>
einem Stück Welt in der lyrischen Haltung wird ja dieses <lb n="pse_353.034"/>
Einssein selbst lebendig und in den Werten der künstlerischen <lb n="pse_353.035"/>
Form uns unmittelbar zugänglich. Und das Zuschauen des <lb n="pse_353.036"/>
Dichters in der epischen Haltung, der dabei die breite Fülle <lb n="pse_353.037"/>
des Vergangenen entfaltet, macht auch uns zu Zuschauenden. <lb n="pse_353.038"/>
Freilich sind zwischen den Wirkungsmöglichkeiten der einzelnen
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[353/0369] pse_353.001 und Lyrischen gehört. Es handelt sich hier auch wieder pse_353.002 um innerste Haltungen, die lebendig werden in der Weltbegegnung pse_353.003 und sich in sprachlicher Gestaltung auswirken. pse_353.004 Es wird selten vorkommen, daß diese Haltungen in einer pse_353.005 Dichtung rein für sich vorkommen, daß eine Dichtung also pse_353.006 entweder nur Verinnern, Betrachten, Zuschauen oder Mitgerissensein pse_353.007 ist. Es ist sogar zu erwarten, daß die möglichen pse_353.008 Grundhaltungen in irgendeiner Weise immer alle vorhanden pse_353.009 sind. Das Dramatische setzt das Epische voraus, denn etwas pse_353.010 muß angeschaut werden, wenn Spannung entstehen soll. pse_353.011 Auch das Epische setzt bis zu einem gewissen Grad das pse_353.012 Lyrische voraus: Nur wenn der Erzähler mit dem Angeschauten pse_353.013 und also uns Vorgestellten gefühlsmäßig eins war, kann pse_353.014 er es so vorstellen, daß es uns nicht gleichgültig sei. Das Zusammenwirken pse_353.015 der drei Haltungen wird aber immer strukturiert pse_353.016 sein, d. h. eine wird den Kern bilden, die anderen pse_353.017 werden sich in bestimmter Weise einfügen. pse_353.018 Aus diesen in einer Dichtung immer vorhandenen menschlichen pse_353.019 Grundhaltungen erklärt sich nun aber eine weitere pse_353.020 Seite am Dasein der Dichtung: ihre Wirkung. Denn dadurch, pse_353.021 daß der schaffende Mensch als Mensch überhaupt an der pse_353.022 Weltbegegnung, die zur Dichtung führt, beteiligt ist, geht pse_353.023 dieses Menschliche auch in die Dichtung ein und kann von pse_353.024 ihr ausstrahlen auf die, die sie erleben. Hier treffen wir wieder pse_353.025 auf den einen wesentlichen Zug an jedem dichterischen Werk: pse_353.026 auf den Einbau des Menschlichen. Das ist bei der dramatischen pse_353.027 Haltung des Pathos und der Problematik ohne weiteres klar, pse_353.028 denn wir haben ja betont, daß in der pathetischen Haltung pse_353.029 ein gegenüberstehender Mensch verlangt wird und alles pse_353.030 Angespanntsein auf ein Ziel zu treibt zu derselben Anspannung. pse_353.031 Aber auch die anderen Haltungen regen menschlich pse_353.032 an. In der künstlerischen Gestaltung des Verschmelzens mit pse_353.033 einem Stück Welt in der lyrischen Haltung wird ja dieses pse_353.034 Einssein selbst lebendig und in den Werten der künstlerischen pse_353.035 Form uns unmittelbar zugänglich. Und das Zuschauen des pse_353.036 Dichters in der epischen Haltung, der dabei die breite Fülle pse_353.037 des Vergangenen entfaltet, macht auch uns zu Zuschauenden. pse_353.038 Freilich sind zwischen den Wirkungsmöglichkeiten der einzelnen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/369
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/369>, abgerufen am 13.05.2024.