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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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schwer zu erfassende Kunst unserer Zeit einzudringen, sind pse_333.002
nicht einfach, aber durchaus nötig. Doch gerade da wird ein pse_333.003
Rückgrat gewissenhaften Kunstbewußtseins verlangt. Man pse_333.004
darf weder vergessen, daß schon Jahrhunderte, ja noch mehr, pse_333.005
vor unseren Tagen Kunstwerke geschaffen worden sind, noch pse_333.006
einfach meinen, alle Versuche in der Kunst unserer Tage pse_333.007
seien schon Kunstwerke. Wenn solche Maßstäbe fehlen, sind pse_333.008
Aussagen möglich, die rücksichtslos behaupten, weil das pse_333.009
Werk von einem Schizophrenen stammt, muß es ein Kunstwerk pse_333.010
sein, oder: Verzerrung und Zertrümmerung alles pse_333.011
Menschlichen ist humanistische Gesinnung, nur solche Zertrümmerung pse_333.012
ist Kunst. Wie kann man von solchen Behauptungen pse_333.013
noch zur großen Kunst der Vergangenheit hinfinden, pse_333.014
zu Raffael, Michelangelo, zu Beethoven, zu Sophokles, zu pse_333.015
Shakespeare? Oder haben solche Werke uns Heutigen nichts pse_333.016
mehr zu sagen? Nicht, daß solche Erscheinungen moderner pse_333.017
Kunst abzulehnen sind; aber die Gefahr setzt ein, wenn man pse_333.018
nur mehr sie als Kunst wertet. Maßstäbe fürs Werten müssen pse_333.019
zugrunde gelegt werden, die auch an die ewigen Werke der pse_333.020
Weltliteratur angelegt werden können. Zweitausend Jahre pse_333.021
abendländischer Kunst sind immerhin doch nicht ganz ohne pse_333.022
Gewicht gegenüber den Schöpfungen der letzten 50 Jahre.

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Erst unter all diesen Voraussetzungen ist es möglich, überhaupt pse_333.024
gewisse grundlegende Maßstäbe für das Werten von Dichtung pse_333.025
errichten zu können. Die ersten zwei Grundfragen bleiben pse_333.026
immer: 1. Ist es ein Gedicht? Hier ist der erste unbedingte pse_333.027
Maßstab die dichterische Sprache. Wir haben uns bemüht, pse_333.028
ihre Grundzüge herauszuarbeiten. 2. Ist es ein gutes Gedicht? pse_333.029
Damit sind wir schon bei einem sehr allgemeinen Wertmaßstab: pse_333.030
gut -- schlecht. Sicher kann man sagen, daß ein Gedicht, pse_333.031
das einem künstlerisch aufgeschlossenen, erfahrenen und pse_333.032
innerlichen Menschen ein tiefes Werterleben auslöst, ein pse_333.033
gutes Gedicht ist. Wir können auch weitergehen: solche pse_333.034
Werterlebnisse werden sich sicher nicht einstellen, wo die pse_333.035
primitivsten technischen Regeln der Sprachgestaltung und vor pse_333.036
allem der künstlerischen Form verletzt sind. Technische Vollendung pse_333.037
bis zu einem gewissen Grade ist also eine Voraussetzung. pse_333.038
Aber entscheidend ist, daß man den Eindruck hat:

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schwer zu erfassende Kunst unserer Zeit einzudringen, sind pse_333.002
nicht einfach, aber durchaus nötig. Doch gerade da wird ein pse_333.003
Rückgrat gewissenhaften Kunstbewußtseins verlangt. Man pse_333.004
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vor unseren Tagen Kunstwerke geschaffen worden sind, noch pse_333.006
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Werk von einem Schizophrenen stammt, muß es ein Kunstwerk pse_333.010
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Menschlichen ist humanistische Gesinnung, nur solche Zertrümmerung pse_333.012
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Kunst abzulehnen sind; aber die Gefahr setzt ein, wenn man pse_333.018
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abendländischer Kunst sind immerhin doch nicht ganz ohne pse_333.022
Gewicht gegenüber den Schöpfungen der letzten 50 Jahre.

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Erst unter all diesen Voraussetzungen ist es möglich, überhaupt pse_333.024
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Maßstab die dichterische Sprache. Wir haben uns bemüht, pse_333.028
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Damit sind wir schon bei einem sehr allgemeinen Wertmaßstab: pse_333.030
gut — schlecht. Sicher kann man sagen, daß ein Gedicht, pse_333.031
das einem künstlerisch aufgeschlossenen, erfahrenen und pse_333.032
innerlichen Menschen ein tiefes Werterleben auslöst, ein pse_333.033
gutes Gedicht ist. Wir können auch weitergehen: solche pse_333.034
Werterlebnisse werden sich sicher nicht einstellen, wo die pse_333.035
primitivsten technischen Regeln der Sprachgestaltung und vor pse_333.036
allem der künstlerischen Form verletzt sind. Technische Vollendung pse_333.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/349>, abgerufen am 25.11.2024.