pse_329.001 allgemein die Zeitlage. Dem von allen Ungewittern erschütterten pse_329.002 20. Jahrhundert ist der Barock zugänglicher als dem pse_329.003 19. Jahrhundert. Auch persönliches Ringen um die Werterfahrung, pse_329.004 Bemühen beim Eindringen in die Werthaftigkeit pse_329.005 eines Kunstwerkes kann uns neue Werte erschließen. Man pse_329.006 wird ohne Bemühen nicht den vollen Wert des "Faust" oder pse_329.007 des "Parzival" erleben, auch nicht den des Petersdomes oder pse_329.008 eines Gemäldes von Picasso. Hier nun hilft auch der Interpret, pse_329.009 der sich tief in die Zeit, aus der das Kunstwerk stammt, und in pse_329.010 die Struktur dieses Werkes einfühlt und der dann dem anderen pse_329.011 die Werte erschließt. Denn Wertaufgeschlossenheit hängt pse_329.012 nicht nur von der Beschaffenheit eines Menschen ab, sondern pse_329.013 auch von einer intensiven Bildungsarbeit. Nur wer sich ums pse_329.014 Kunstwerk ständig bemüht, wer lernt und immer neue Erfahrungen pse_329.015 sammelt und immer wieder strebt, ins Innere der pse_329.016 Dichtung zu dringen, nur dem wird der Wert in einer tiefen pse_329.017 inneren Erfahrung aufgehen. Daher kann man sagen, daß dem pse_329.018 geschulten und gewissenhaften Interpreten der Wert einer pse_329.019 Dichtung eher zugänglich sein wird als einem gutwilligen pse_329.020 Laien. Freilich nicht einem trockenen gelehrten Herumarbeiten pse_329.021 an einem Kunstwerk und nicht einem schönrednerischen und pse_329.022 selbstgefälligen Drumherumreden. Wer aber durch Begabung pse_329.023 und eigene Bildungsarbeit, wozu auch gelehrtes Forschen gehört, pse_329.024 in die Werthaftigkeit einer Dichtung tief eingedrungen pse_329.025 ist, hat geradezu die Pflicht, auch andere einzuführen: auch pse_329.026 darin besteht der Sollensruf des Werterlebens.
pse_329.027 Man kann nun versuchen, das im Werterleben Erfahrene zu pse_329.028 beschreiben. Man kann es in Urteile fassen und zu begründen pse_329.029 versuchen, indem man auch die Bedingungen erforscht, die pse_329.030 am Kunstwerk erfüllt sein müssen, damit ein Werterleben pse_329.031 möglich ist, die also wohl auch Bedingungen für den Wert pse_329.032 eines solchen Gebildes sind. Dieses theoretische Bemühen ist pse_329.033 die Wertung. Wertung ist nicht Werterleben, sie setzt es vielmehr pse_329.034 voraus, kann es also auch nie ersetzen. Sie ist die theoretisch-wissenschaftliche pse_329.035 Beschäftigung mit den Bedingungen pse_329.036 und Zusammenhängen, aus denen das Werterlebnis unmittelbar pse_329.037 herauswächst.
pse_329.038 Die Wertung steht vor großen Schwierigkeiten. Wir
pse_329.001 allgemein die Zeitlage. Dem von allen Ungewittern erschütterten pse_329.002 20. Jahrhundert ist der Barock zugänglicher als dem pse_329.003 19. Jahrhundert. Auch persönliches Ringen um die Werterfahrung, pse_329.004 Bemühen beim Eindringen in die Werthaftigkeit pse_329.005 eines Kunstwerkes kann uns neue Werte erschließen. Man pse_329.006 wird ohne Bemühen nicht den vollen Wert des »Faust« oder pse_329.007 des »Parzival« erleben, auch nicht den des Petersdomes oder pse_329.008 eines Gemäldes von Picasso. Hier nun hilft auch der Interpret, pse_329.009 der sich tief in die Zeit, aus der das Kunstwerk stammt, und in pse_329.010 die Struktur dieses Werkes einfühlt und der dann dem anderen pse_329.011 die Werte erschließt. Denn Wertaufgeschlossenheit hängt pse_329.012 nicht nur von der Beschaffenheit eines Menschen ab, sondern pse_329.013 auch von einer intensiven Bildungsarbeit. Nur wer sich ums pse_329.014 Kunstwerk ständig bemüht, wer lernt und immer neue Erfahrungen pse_329.015 sammelt und immer wieder strebt, ins Innere der pse_329.016 Dichtung zu dringen, nur dem wird der Wert in einer tiefen pse_329.017 inneren Erfahrung aufgehen. Daher kann man sagen, daß dem pse_329.018 geschulten und gewissenhaften Interpreten der Wert einer pse_329.019 Dichtung eher zugänglich sein wird als einem gutwilligen pse_329.020 Laien. Freilich nicht einem trockenen gelehrten Herumarbeiten pse_329.021 an einem Kunstwerk und nicht einem schönrednerischen und pse_329.022 selbstgefälligen Drumherumreden. Wer aber durch Begabung pse_329.023 und eigene Bildungsarbeit, wozu auch gelehrtes Forschen gehört, pse_329.024 in die Werthaftigkeit einer Dichtung tief eingedrungen pse_329.025 ist, hat geradezu die Pflicht, auch andere einzuführen: auch pse_329.026 darin besteht der Sollensruf des Werterlebens.
pse_329.027 Man kann nun versuchen, das im Werterleben Erfahrene zu pse_329.028 beschreiben. Man kann es in Urteile fassen und zu begründen pse_329.029 versuchen, indem man auch die Bedingungen erforscht, die pse_329.030 am Kunstwerk erfüllt sein müssen, damit ein Werterleben pse_329.031 möglich ist, die also wohl auch Bedingungen für den Wert pse_329.032 eines solchen Gebildes sind. Dieses theoretische Bemühen ist pse_329.033 die Wertung. Wertung ist nicht Werterleben, sie setzt es vielmehr pse_329.034 voraus, kann es also auch nie ersetzen. Sie ist die theoretisch-wissenschaftliche pse_329.035 Beschäftigung mit den Bedingungen pse_329.036 und Zusammenhängen, aus denen das Werterlebnis unmittelbar pse_329.037 herauswächst.
pse_329.038 Die Wertung steht vor großen Schwierigkeiten. Wir
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allgemein die Zeitlage. Dem von allen Ungewittern erschütterten pse_329.002
20. Jahrhundert ist der Barock zugänglicher als dem pse_329.003
19. Jahrhundert. Auch persönliches Ringen um die Werterfahrung, pse_329.004
Bemühen beim Eindringen in die Werthaftigkeit pse_329.005
eines Kunstwerkes kann uns neue Werte erschließen. Man pse_329.006
wird ohne Bemühen nicht den vollen Wert des »Faust« oder pse_329.007
des »Parzival« erleben, auch nicht den des Petersdomes oder pse_329.008
eines Gemäldes von Picasso. Hier nun hilft auch der Interpret, pse_329.009
der sich tief in die Zeit, aus der das Kunstwerk stammt, und in pse_329.010
die Struktur dieses Werkes einfühlt und der dann dem anderen pse_329.011
die Werte erschließt. Denn Wertaufgeschlossenheit hängt pse_329.012
nicht nur von der Beschaffenheit eines Menschen ab, sondern pse_329.013
auch von einer intensiven Bildungsarbeit. Nur wer sich ums pse_329.014
Kunstwerk ständig bemüht, wer lernt und immer neue Erfahrungen pse_329.015
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geschulten und gewissenhaften Interpreten der Wert einer pse_329.019
Dichtung eher zugänglich sein wird als einem gutwilligen pse_329.020
Laien. Freilich nicht einem trockenen gelehrten Herumarbeiten pse_329.021
an einem Kunstwerk und nicht einem schönrednerischen und pse_329.022
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und eigene Bildungsarbeit, wozu auch gelehrtes Forschen gehört, pse_329.024
in die Werthaftigkeit einer Dichtung tief eingedrungen pse_329.025
ist, hat geradezu die Pflicht, auch andere einzuführen: auch pse_329.026
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/345>, abgerufen am 25.11.2024.
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