pse_328.001 uns in allen Schichten. Das allein schon ist ein Beweis dafür, pse_328.002 daß der Wert nicht ein Hirngespinst, eine Einbildung ist. pse_328.003 Aber sicher sind diese tiefen Erlebnisse nicht allen Menschen pse_328.004 zugänglich. Das scheint bedenklich. Man spricht manchmal pse_328.005 davon, daß nur die Übereinstimmung aller (consensus pse_328.006 omnium) die Objektivität eines Wertes, hier also eines ästhetischen pse_328.007 verbürge. Das ist ein Irrtum. In bezug auf jede Wertklasse pse_328.008 gibt es bei vielen Menschen Wertblindheit. Nicht allen pse_328.009 Menschen geht der Wert einer komplizierten Maschine ein, pse_328.010 nicht allen die Wahrheitswerte aus den höchsten Erkenntnissen pse_328.011 der höheren Mathematik. Aber kaum ein Mathematiker pse_328.012 würde deshalb den Wert solcher Erkenntnisse in Zweifel pse_328.013 ziehen lassen. Mit vollem Recht. Und es ist kaum eine Frage, pse_328.014 ob mehr Menschen an der Matthäuspassion oder an leichter pse_328.015 Unterhaltungsmusik Gefallen finden, an einem Selbstbildnis pse_328.016 des späten Rembrandt oder an einem öden Farbdruck, an pse_328.017 Goethes "Faust" oder an einem Dutzendroman in den üblichen pse_328.018 Heften. Ein Consensus omnium würde hier zu merkwürdigen pse_328.019 Ergebnissen führen. Majorität hat in Sachen des Werterlebens pse_328.020 nichts zu sagen. Die innere Erfahrung ist für einen Wert das pse_328.021 einzige Kriterium. Den Wert der Dichtung erleben nur pse_328.022 wesenhafte Menschen. Nur ihnen ist die Wertordnung offenbar. pse_328.023 Und manchmal muß solch ein wesenhafter Mensch auch pse_328.024 lange ringen, bis ihm der Wert voll aufgeht. Auch das ist pse_328.025 möglich, daß tief veranlagte Menschen nicht für alle Wertträger pse_328.026 einer Wertklasse empfänglich sind. Es ist über die pse_328.027 Wesenhaftigkeit oder ästhetische Aufgeschlossenheit eines pse_328.028 Menschen noch nichts gesagt, wenn er am "Witiko" oder an pse_328.029 Kafkas "Schloß" oder an Dantes Werk keine tiefen Werterfahrungen pse_328.030 hat. Besonders Kunstwerke der Vergangenheit pse_328.031 können uns aus der gesamten geschichtlichen Lage heraus pse_328.032 fremd werden. Aber hier kann auch das Umgekehrte eintreten: pse_328.033 die Wertempfänglichkeit kann auch für solche uns pse_328.034 ferner liegenden Kunstwerke wieder geweckt werden. Wenn pse_328.035 das möglich ist, ist damit zugleich bewiesen, daß der Wert pse_328.036 einer solchen Dichtung nicht zeitbedingt und daher vergänglich pse_328.037 ist. Aber zur Erringung dieser Aufgeschlossenheit bedarf pse_328.038 es bestimmter Voraussetzungen. Dazu gehört einmal ganz
pse_328.001 uns in allen Schichten. Das allein schon ist ein Beweis dafür, pse_328.002 daß der Wert nicht ein Hirngespinst, eine Einbildung ist. pse_328.003 Aber sicher sind diese tiefen Erlebnisse nicht allen Menschen pse_328.004 zugänglich. Das scheint bedenklich. Man spricht manchmal pse_328.005 davon, daß nur die Übereinstimmung aller (consensus pse_328.006 omnium) die Objektivität eines Wertes, hier also eines ästhetischen pse_328.007 verbürge. Das ist ein Irrtum. In bezug auf jede Wertklasse pse_328.008 gibt es bei vielen Menschen Wertblindheit. Nicht allen pse_328.009 Menschen geht der Wert einer komplizierten Maschine ein, pse_328.010 nicht allen die Wahrheitswerte aus den höchsten Erkenntnissen pse_328.011 der höheren Mathematik. Aber kaum ein Mathematiker pse_328.012 würde deshalb den Wert solcher Erkenntnisse in Zweifel pse_328.013 ziehen lassen. Mit vollem Recht. Und es ist kaum eine Frage, pse_328.014 ob mehr Menschen an der Matthäuspassion oder an leichter pse_328.015 Unterhaltungsmusik Gefallen finden, an einem Selbstbildnis pse_328.016 des späten Rembrandt oder an einem öden Farbdruck, an pse_328.017 Goethes »Faust« oder an einem Dutzendroman in den üblichen pse_328.018 Heften. Ein Consensus omnium würde hier zu merkwürdigen pse_328.019 Ergebnissen führen. Majorität hat in Sachen des Werterlebens pse_328.020 nichts zu sagen. Die innere Erfahrung ist für einen Wert das pse_328.021 einzige Kriterium. Den Wert der Dichtung erleben nur pse_328.022 wesenhafte Menschen. Nur ihnen ist die Wertordnung offenbar. pse_328.023 Und manchmal muß solch ein wesenhafter Mensch auch pse_328.024 lange ringen, bis ihm der Wert voll aufgeht. Auch das ist pse_328.025 möglich, daß tief veranlagte Menschen nicht für alle Wertträger pse_328.026 einer Wertklasse empfänglich sind. Es ist über die pse_328.027 Wesenhaftigkeit oder ästhetische Aufgeschlossenheit eines pse_328.028 Menschen noch nichts gesagt, wenn er am »Witiko« oder an pse_328.029 Kafkas »Schloß« oder an Dantes Werk keine tiefen Werterfahrungen pse_328.030 hat. Besonders Kunstwerke der Vergangenheit pse_328.031 können uns aus der gesamten geschichtlichen Lage heraus pse_328.032 fremd werden. Aber hier kann auch das Umgekehrte eintreten: pse_328.033 die Wertempfänglichkeit kann auch für solche uns pse_328.034 ferner liegenden Kunstwerke wieder geweckt werden. Wenn pse_328.035 das möglich ist, ist damit zugleich bewiesen, daß der Wert pse_328.036 einer solchen Dichtung nicht zeitbedingt und daher vergänglich pse_328.037 ist. Aber zur Erringung dieser Aufgeschlossenheit bedarf pse_328.038 es bestimmter Voraussetzungen. Dazu gehört einmal ganz
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ob mehr Menschen an der Matthäuspassion oder an leichter pse_328.015
Unterhaltungsmusik Gefallen finden, an einem Selbstbildnis pse_328.016
des späten Rembrandt oder an einem öden Farbdruck, an pse_328.017
Goethes »Faust« oder an einem Dutzendroman in den üblichen pse_328.018
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einzige Kriterium. Den Wert der Dichtung erleben nur pse_328.022
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Und manchmal muß solch ein wesenhafter Mensch auch pse_328.024
lange ringen, bis ihm der Wert voll aufgeht. Auch das ist pse_328.025
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Menschen noch nichts gesagt, wenn er am »Witiko« oder an pse_328.029
Kafkas »Schloß« oder an Dantes Werk keine tiefen Werterfahrungen pse_328.030
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die Wertempfänglichkeit kann auch für solche uns pse_328.034
ferner liegenden Kunstwerke wieder geweckt werden. Wenn pse_328.035
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einer solchen Dichtung nicht zeitbedingt und daher vergänglich pse_328.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/344>, abgerufen am 22.11.2024.
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