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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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was unmittelbar gestaltet ist und uns unmittelbar als erstes pse_320.002
entgegentritt, zugleich etwas Tieferes durchscheinen läßt. pse_320.003
Man kann vorsichtig theoretisch trennend von mehreren pse_320.004
Schichten sprechen. Dabei hat jede Schicht ihre besondere pse_320.005
Formung. Etwa so: die sprachliche Gestaltung, rein auf die pse_320.006
Fügung der Worte und Formen bezogen, richtet sich nach pse_320.007
der Konvention der sogenannten Grammatik, indem sie ihr pse_320.008
entweder folgt oder sie zu zerbrechen sucht. Das Weltbild, pse_320.009
das sich in der Dichtung entfaltet, folgt auch bestimmten pse_320.010
Strukturgesetzen: es ist anders angelegt in Goethes "Faust" pse_320.011
und anders in Kafkas "Schloß". Weiter zeigt sich, daß die pse_320.012
Formung der je vorderen Schicht auch für die der nächsthinteren pse_320.013
bestimmend ist: das Weltbild des "Faust" ist in pse_320.014
seiner Art auch von der ganz eigenartigen dramatischen Form pse_320.015
bestimmt, und die "Lehrjahre" zeigen im Aufbau des Weltbildes pse_320.016
auch Züge, die durch die Tatsache der epischen Gestaltung pse_320.017
gegeben sind. Und doch auch umgekehrt: im ganzen pse_320.018
gesehen sind die äußersten Schichten von der tiefsten bestimmt. pse_320.019
Aus dem Weltbild Kafkas ergibt sich auch die sprachlich-kompositorische pse_320.020
Durchführung, ja noch das kleine pse_320.021
Heinesche Gedicht ist in seinem sprachkünstlerischen Ablauf pse_320.022
Prägung aus einer bestimmten menschlichen Tiefe.

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Die Eigenart der Schichtung gerade des dichterischen Kunstwerks pse_320.024
kann man sich vor Augen führen, wenn man sich an pse_320.025
den Schichtenbau des Seins erinnert, wie ihn der Philosoph pse_320.026
Nicolai Hartmann durchgeführt hat. Er unterscheidet von pse_320.027
unten nach oben die Schichten des Materiellen, des Organischen, pse_320.028
des Seelischen und des Geistigen. Jede höhere Schicht pse_320.029
ist in ihrem Dasein von der unteren bestimmt und ohne sie pse_320.030
nicht denkbar. Man kann nun auch im Kunstwerk diesen pse_320.031
Schichtenbau erkennen, allerdings sind da die verschiedensten pse_320.032
Sprünge und Verflechtungen oder Zusammendrängungen pse_320.033
möglich. Immerhin ist bei den bildenden Künsten die materielle pse_320.034
Fundierung und das Geistige der Tiefe deutlich. Bei der pse_320.035
Dichtung läßt nun ihre unbedingte und ausschließliche Fundierung pse_320.036
auf der Sprache schon eine Eigenart erkennen. Gewiß pse_320.037
ist auch die Sprache materiell fundiert: physiologisch in der pse_320.038
Lautung, noch materieller in der Schrift. Aber schon in der

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was unmittelbar gestaltet ist und uns unmittelbar als erstes pse_320.002
entgegentritt, zugleich etwas Tieferes durchscheinen läßt. pse_320.003
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auch Züge, die durch die Tatsache der epischen Gestaltung pse_320.017
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Heinesche Gedicht ist in seinem sprachkünstlerischen Ablauf pse_320.022
Prägung aus einer bestimmten menschlichen Tiefe.

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Die Eigenart der Schichtung gerade des dichterischen Kunstwerks pse_320.024
kann man sich vor Augen führen, wenn man sich an pse_320.025
den Schichtenbau des Seins erinnert, wie ihn der Philosoph pse_320.026
Nicolai Hartmann durchgeführt hat. Er unterscheidet von pse_320.027
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des Seelischen und des Geistigen. Jede höhere Schicht pse_320.029
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nicht denkbar. Man kann nun auch im Kunstwerk diesen pse_320.031
Schichtenbau erkennen, allerdings sind da die verschiedensten pse_320.032
Sprünge und Verflechtungen oder Zusammendrängungen pse_320.033
möglich. Immerhin ist bei den bildenden Künsten die materielle pse_320.034
Fundierung und das Geistige der Tiefe deutlich. Bei der pse_320.035
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auf der Sprache schon eine Eigenart erkennen. Gewiß pse_320.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/336>, abgerufen am 14.05.2024.