pse_319.001 die Tragödie Shakespeares größte Fülle und Mannigfaltigkeit pse_319.002 in demselben Werk.
pse_319.003 Mit dieser Weltfülle und der formalen Vielgestaltigkeit pse_319.004 hängt dann auch die Vielstimmigkeit einer Dichtung zusammen. pse_319.005 Wieder ist hier dem lyrischen Gedicht eine Grenze gezogen; pse_319.006 doch auch da gibt es Unterschiede: man denke an pse_319.007 Goethes "Selige Sehnsucht" und an Gedichte Mörikes zum pse_319.008 Unterschied von Rokokoversen oder Rückert. Aber innerhalb pse_319.009 großer Dichtungen sind die Unterschiede viel deutlicher. pse_319.010 Neben Goethes "Lehrjahren" mit der Fülle an Stimmungen pse_319.011 und Haltungen, wie sie sich aus der großen Zahl der charakterlich pse_319.012 mannigfaltiger Figuren und ihrer Schicksale ergeben, pse_319.013 steht Stifters "Nachsommer", der in nur wenigen Stimmungen pse_319.014 durchs Ganze durchführt; neben den beinahe einstimmigen pse_319.015 Romanen und Erzählungen Kafkas steht die Vielstimmigkeit pse_319.016 des "Dr. Faustus". Schon hier aber stellen wir fest, daß diese pse_319.017 Unterscheidung noch kein eindeutiges Werturteil ermöglicht. pse_319.018 Dasselbe gilt für die Dramen. Die griechischen und die französischen pse_319.019 Tragödien sind beinahe völlig auf eine Stimmung pse_319.020 abgetönt. Das zeigt sich deutlich im Unterschied etwa von pse_319.021 "König Ödipus" und "Antigone" von Sophokles; es ist entscheidend, pse_319.022 daß im ersten vor allem die Königsgestalt mit pse_319.023 ihrer Haltung in der Mitte steht, im zweiten die ganz anders pse_319.024 geartete Mädchengestalt. Man vergleiche auch die beiden pse_319.025 scheinbar so nahen Tragödien zweier wild-erhabener Frauengestalten: pse_319.026 Racines "Phedre" und seine "Athalie"; man könnte pse_319.027 vergröbernd sagen: im ersten Drama ist es die von Phädra pse_319.028 selber erschütternd erlebte Liebesleidenschaft, im zweiten der pse_319.029 unbändige Drang nach Herrschertum. Ganz anders sind hier pse_319.030 wieder die Dramen Shakespeares in ihrer großen Vielstimmigkeit. pse_319.031 Es genügt, an die Vielzahl der ineinander verflochtenen pse_319.032 und aufeinander folgenden Stimmungen im "Hamlet" und pse_319.033 im "Lear" zu denken.
pse_319.034 Die Dichtung als ästhetisches Gebilde zeigt nun einen weiteren pse_319.035 Reichtum, der in irgendeiner Weise immer vorhanden pse_319.036 ist, aber in der Art, wie er sich zeigt, wieder viele Möglichkeiten pse_319.037 offenbart: die Tiefenschichtung. Wir haben schon öfter pse_319.038 erwähnt, daß in jeder Dichtung als einem Kunstwerk das,
pse_319.001 die Tragödie Shakespeares größte Fülle und Mannigfaltigkeit pse_319.002 in demselben Werk.
pse_319.003 Mit dieser Weltfülle und der formalen Vielgestaltigkeit pse_319.004 hängt dann auch die Vielstimmigkeit einer Dichtung zusammen. pse_319.005 Wieder ist hier dem lyrischen Gedicht eine Grenze gezogen; pse_319.006 doch auch da gibt es Unterschiede: man denke an pse_319.007 Goethes »Selige Sehnsucht« und an Gedichte Mörikes zum pse_319.008 Unterschied von Rokokoversen oder Rückert. Aber innerhalb pse_319.009 großer Dichtungen sind die Unterschiede viel deutlicher. pse_319.010 Neben Goethes »Lehrjahren« mit der Fülle an Stimmungen pse_319.011 und Haltungen, wie sie sich aus der großen Zahl der charakterlich pse_319.012 mannigfaltiger Figuren und ihrer Schicksale ergeben, pse_319.013 steht Stifters »Nachsommer«, der in nur wenigen Stimmungen pse_319.014 durchs Ganze durchführt; neben den beinahe einstimmigen pse_319.015 Romanen und Erzählungen Kafkas steht die Vielstimmigkeit pse_319.016 des »Dr. Faustus«. Schon hier aber stellen wir fest, daß diese pse_319.017 Unterscheidung noch kein eindeutiges Werturteil ermöglicht. pse_319.018 Dasselbe gilt für die Dramen. Die griechischen und die französischen pse_319.019 Tragödien sind beinahe völlig auf eine Stimmung pse_319.020 abgetönt. Das zeigt sich deutlich im Unterschied etwa von pse_319.021 »König Ödipus« und »Antigone« von Sophokles; es ist entscheidend, pse_319.022 daß im ersten vor allem die Königsgestalt mit pse_319.023 ihrer Haltung in der Mitte steht, im zweiten die ganz anders pse_319.024 geartete Mädchengestalt. Man vergleiche auch die beiden pse_319.025 scheinbar so nahen Tragödien zweier wild-erhabener Frauengestalten: pse_319.026 Racines »Phèdre« und seine »Athalie«; man könnte pse_319.027 vergröbernd sagen: im ersten Drama ist es die von Phädra pse_319.028 selber erschütternd erlebte Liebesleidenschaft, im zweiten der pse_319.029 unbändige Drang nach Herrschertum. Ganz anders sind hier pse_319.030 wieder die Dramen Shakespeares in ihrer großen Vielstimmigkeit. pse_319.031 Es genügt, an die Vielzahl der ineinander verflochtenen pse_319.032 und aufeinander folgenden Stimmungen im »Hamlet« und pse_319.033 im »Lear« zu denken.
pse_319.034 Die Dichtung als ästhetisches Gebilde zeigt nun einen weiteren pse_319.035 Reichtum, der in irgendeiner Weise immer vorhanden pse_319.036 ist, aber in der Art, wie er sich zeigt, wieder viele Möglichkeiten pse_319.037 offenbart: die Tiefenschichtung. Wir haben schon öfter pse_319.038 erwähnt, daß in jeder Dichtung als einem Kunstwerk das,
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die Tragödie Shakespeares größte Fülle und Mannigfaltigkeit pse_319.002
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Mit dieser Weltfülle und der formalen Vielgestaltigkeit pse_319.004
hängt dann auch die Vielstimmigkeit einer Dichtung zusammen. pse_319.005
Wieder ist hier dem lyrischen Gedicht eine Grenze gezogen; pse_319.006
doch auch da gibt es Unterschiede: man denke an pse_319.007
Goethes »Selige Sehnsucht« und an Gedichte Mörikes zum pse_319.008
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großer Dichtungen sind die Unterschiede viel deutlicher. pse_319.010
Neben Goethes »Lehrjahren« mit der Fülle an Stimmungen pse_319.011
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mannigfaltiger Figuren und ihrer Schicksale ergeben, pse_319.013
steht Stifters »Nachsommer«, der in nur wenigen Stimmungen pse_319.014
durchs Ganze durchführt; neben den beinahe einstimmigen pse_319.015
Romanen und Erzählungen Kafkas steht die Vielstimmigkeit pse_319.016
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Tragödien sind beinahe völlig auf eine Stimmung pse_319.020
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»König Ödipus« und »Antigone« von Sophokles; es ist entscheidend, pse_319.022
daß im ersten vor allem die Königsgestalt mit pse_319.023
ihrer Haltung in der Mitte steht, im zweiten die ganz anders pse_319.024
geartete Mädchengestalt. Man vergleiche auch die beiden pse_319.025
scheinbar so nahen Tragödien zweier wild-erhabener Frauengestalten: pse_319.026
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selber erschütternd erlebte Liebesleidenschaft, im zweiten der pse_319.029
unbändige Drang nach Herrschertum. Ganz anders sind hier pse_319.030
wieder die Dramen Shakespeares in ihrer großen Vielstimmigkeit. pse_319.031
Es genügt, an die Vielzahl der ineinander verflochtenen pse_319.032
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Die Dichtung als ästhetisches Gebilde zeigt nun einen weiteren pse_319.035
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/335>, abgerufen am 22.11.2024.
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