pse_311.001 eines bestimmten Weltausschnitts. Solche Willkür pse_311.002 der Formenverwendung führt dazu, auch die außersprachliche pse_311.003 Wirklichkeit willkürlich zu erfassen. Der Manierist pse_311.004 sieht die Dinge vielfach anormal, anders als andere. Von hier pse_311.005 führt der Weg zum Grotesken, das gerade in manieristischen pse_311.006 Kunstbereichen immer wieder auftaucht. Der Manierist pse_311.007 greift vor allem das Schreckhafte, das Verzerrte heraus und pse_311.008 sieht es in die gebotene Welt hinein. Die Übersteigerungen pse_311.009 und Verzerrungen in der Gestaltung der Wirklichkeit führen pse_311.010 zu wilden Ausschreitungen, zum Pornographischen, zu pse_311.011 Pansexualismus. Aber immer wieder erkennt man dabei, wie pse_311.012 überlieferte Formen eingesetzt oder umgeformt, oft auch pse_311.013 reformiert werden. Die Welt erscheint in solcher Kunst als pse_311.014 Labyrinth, nicht mehr als Harmonie wie in der Klassik. Die pse_311.015 manieristische Sprachkunst besteht vor allem aus einer Anhäufung pse_311.016 der rhetorischen Schmuckformen. Die Metaphern pse_311.017 sind auffällig und gesucht. Im spanischen Barock verwendet pse_311.018 man das Wort "wassersüchtig" für geistige Aufgeblasenheit, pse_311.019 vergleicht das Zitherspiel dem Vogelgesang. Man liebt Lautspiele pse_311.020 aller Art. Zum Beispiel läßt man in einem Vers alle pse_311.021 Worte mit dem gleichen Laut beginnen. Das tat schon der pse_311.022 alte Römer Ennius:
pse_311.023
O Tite, tute, Tati, tibi tanta, tyranne, tulisti.
pse_311.024
Das Tollste leistete sich der Mönch Hucbald. Er schrieb ein pse_311.025 Loblied auf die Kahlköpfigkeit, das er an Karl den Kahlen pse_311.026 richtete; in allen 146 Versen beginnt -- zu Ehren des Königs -- pse_311.027 jedes Wort mit c! Es gibt eine Fülle solcher Sonderbarkeiten. pse_311.028 Besonders wichtig sind die Gedankenspiele. Man spitzt einen pse_311.029 Gedanken auf ausgesuchteste Weise zu. So bilden sich die pse_311.030 Formen des Epigramms, die französische Pointe; italienisch pse_311.031 nannte man solche Zuspitzungen Concetti. Daraus entwikkelte pse_311.032 sich die Manier des Konzeptismus im 17. Jahrhundert. pse_311.033 Gepflegter, vornehmer Ausdruck war die Grundlage für pse_311.034 solche zugespitzte Bilder. Daher spricht man in Spanien von pse_311.035 Kultismus. In solcher Stilgebung nannte man den Stuhl die pse_311.036 Annehmlichkeit der Konversation; Philipp Zesen hat in der pse_311.037 deutschen Dichtung diese Formen gepflegt. Auch der Aufbau
pse_311.001 eines bestimmten Weltausschnitts. Solche Willkür pse_311.002 der Formenverwendung führt dazu, auch die außersprachliche pse_311.003 Wirklichkeit willkürlich zu erfassen. Der Manierist pse_311.004 sieht die Dinge vielfach anormal, anders als andere. Von hier pse_311.005 führt der Weg zum Grotesken, das gerade in manieristischen pse_311.006 Kunstbereichen immer wieder auftaucht. Der Manierist pse_311.007 greift vor allem das Schreckhafte, das Verzerrte heraus und pse_311.008 sieht es in die gebotene Welt hinein. Die Übersteigerungen pse_311.009 und Verzerrungen in der Gestaltung der Wirklichkeit führen pse_311.010 zu wilden Ausschreitungen, zum Pornographischen, zu pse_311.011 Pansexualismus. Aber immer wieder erkennt man dabei, wie pse_311.012 überlieferte Formen eingesetzt oder umgeformt, oft auch pse_311.013 reformiert werden. Die Welt erscheint in solcher Kunst als pse_311.014 Labyrinth, nicht mehr als Harmonie wie in der Klassik. Die pse_311.015 manieristische Sprachkunst besteht vor allem aus einer Anhäufung pse_311.016 der rhetorischen Schmuckformen. Die Metaphern pse_311.017 sind auffällig und gesucht. Im spanischen Barock verwendet pse_311.018 man das Wort »wassersüchtig« für geistige Aufgeblasenheit, pse_311.019 vergleicht das Zitherspiel dem Vogelgesang. Man liebt Lautspiele pse_311.020 aller Art. Zum Beispiel läßt man in einem Vers alle pse_311.021 Worte mit dem gleichen Laut beginnen. Das tat schon der pse_311.022 alte Römer Ennius:
pse_311.023
O Tite, tute, Tati, tibi tanta, tyranne, tulisti.
pse_311.024
Das Tollste leistete sich der Mönch Hucbald. Er schrieb ein pse_311.025 Loblied auf die Kahlköpfigkeit, das er an Karl den Kahlen pse_311.026 richtete; in allen 146 Versen beginnt — zu Ehren des Königs — pse_311.027 jedes Wort mit c! Es gibt eine Fülle solcher Sonderbarkeiten. pse_311.028 Besonders wichtig sind die Gedankenspiele. Man spitzt einen pse_311.029 Gedanken auf ausgesuchteste Weise zu. So bilden sich die pse_311.030 Formen des Epigramms, die französische Pointe; italienisch pse_311.031 nannte man solche Zuspitzungen Concetti. Daraus entwikkelte pse_311.032 sich die Manier des Konzeptismus im 17. Jahrhundert. pse_311.033 Gepflegter, vornehmer Ausdruck war die Grundlage für pse_311.034 solche zugespitzte Bilder. Daher spricht man in Spanien von pse_311.035 Kultismus. In solcher Stilgebung nannte man den Stuhl die pse_311.036 Annehmlichkeit der Konversation; Philipp Zesen hat in der pse_311.037 deutschen Dichtung diese Formen gepflegt. Auch der Aufbau
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der Formenverwendung führt dazu, auch die außersprachliche pse_311.003
Wirklichkeit willkürlich zu erfassen. Der Manierist pse_311.004
sieht die Dinge vielfach anormal, anders als andere. Von hier pse_311.005
führt der Weg zum Grotesken, das gerade in manieristischen pse_311.006
Kunstbereichen immer wieder auftaucht. Der Manierist pse_311.007
greift vor allem das Schreckhafte, das Verzerrte heraus und pse_311.008
sieht es in die gebotene Welt hinein. Die Übersteigerungen pse_311.009
und Verzerrungen in der Gestaltung der Wirklichkeit führen pse_311.010
zu wilden Ausschreitungen, zum Pornographischen, zu pse_311.011
Pansexualismus. Aber immer wieder erkennt man dabei, wie pse_311.012
überlieferte Formen eingesetzt oder umgeformt, oft auch pse_311.013
reformiert werden. Die Welt erscheint in solcher Kunst als pse_311.014
Labyrinth, nicht mehr als Harmonie wie in der Klassik. Die pse_311.015
manieristische Sprachkunst besteht vor allem aus einer Anhäufung pse_311.016
der rhetorischen Schmuckformen. Die Metaphern pse_311.017
sind auffällig und gesucht. Im spanischen Barock verwendet pse_311.018
man das Wort »wassersüchtig« für geistige Aufgeblasenheit, pse_311.019
vergleicht das Zitherspiel dem Vogelgesang. Man liebt Lautspiele pse_311.020
aller Art. Zum Beispiel läßt man in einem Vers alle pse_311.021
Worte mit dem gleichen Laut beginnen. Das tat schon der pse_311.022
alte Römer Ennius:
pse_311.023
O Tite, tute, Tati, tibi tanta, tyranne, tulisti.
pse_311.024
Das Tollste leistete sich der Mönch Hucbald. Er schrieb ein pse_311.025
Loblied auf die Kahlköpfigkeit, das er an Karl den Kahlen pse_311.026
richtete; in allen 146 Versen beginnt — zu Ehren des Königs — pse_311.027
jedes Wort mit c! Es gibt eine Fülle solcher Sonderbarkeiten. pse_311.028
Besonders wichtig sind die Gedankenspiele. Man spitzt einen pse_311.029
Gedanken auf ausgesuchteste Weise zu. So bilden sich die pse_311.030
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nannte man solche Zuspitzungen Concetti. Daraus entwikkelte pse_311.032
sich die Manier des Konzeptismus im 17. Jahrhundert. pse_311.033
Gepflegter, vornehmer Ausdruck war die Grundlage für pse_311.034
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Kultismus. In solcher Stilgebung nannte man den Stuhl die pse_311.036
Annehmlichkeit der Konversation; Philipp Zesen hat in der pse_311.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/327>, abgerufen am 22.11.2024.
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