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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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"Der Auszug der Ziegelschläger fand statt. An der Spitze schritt pse_303.002
das Oberhaupt der Familie in knapp anliegender ausgefranster pse_303.003
Leinwandhose, in zerrissener blauer Barchentjacke. Er hatte pse_303.004
den durchlöcherten Hut schief aufgesetzt; sein rotes, betrunkenes pse_303.005
Gesicht war gedunsen; seine Lippen stießen Flüche hervor pse_303.006
gegen den Pfaffen und die Pfaffenknechte, die ihn um pse_303.007
sein redliches Broterwerb gebracht."

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Es ist sofort deutlich, daß die Dichterin einen ganz anderen pse_303.009
Ausschnitt aus der Wirklichkeit erfaßt und gestaltet: es ist pse_303.010
eine außersprachliche Wirklichkeit des gewöhnlichen Alltags, pse_303.011
die aus aller Nähe sprachlich geprägt wird. Das zeigt der pse_303.012
Wortschatz sofort. Das gewöhnliche Leben gewöhnlicher pse_303.013
Menschen stellt die Dichtung dar, sogar mit einem Zuge ins pse_303.014
Soziale, d. h. die Spannung der Schichten wird fühlbar in pse_303.015
solcher Darstellung. Der Satzbau ist einfach, beinahe hart. pse_303.016
In vielen Darstellungen dieser Form -- besonders in Erzählungen pse_303.017
-- werden Teile sachdarstellerischer Haltung eingefügt. pse_303.018
Dabei fällt auch an der angeführten Stelle auf, daß pse_303.019
die sprachlichen Bilder nicht eng zusammengefügt sind, nicht pse_303.020
zu einer höheren Einheit zusammenwachsen, sondern mehr pse_303.021
locker nebeneinander stehen: man beachte, wie der Ausdruck pse_303.022
"das Oberhaupt der Familie" beinahe hart an das folgende pse_303.023
stößt; besonders deutlich ist das beim Übergang vom gedunsenen pse_303.024
Gesicht zu den Flüchen, die die Lippen ausstoßen. Das pse_303.025
verrät nicht bloß eine gewisse Lockerung im Aufbau, der pse_303.026
eben da und dort Züge aus dem Alltagsleben herausgreift pse_303.027
und nebeneinanderstellt, sondern auch, daß durch die Nähe pse_303.028
zur Alltagswirklichkeit sich vor allem die Einzelheiten aufdrängen pse_303.029
und der Überblick übers Ganze eher zurücktritt. pse_303.030
Damit haben wir nun zwei Züge erkannt, die dem Realismus pse_303.031
wesentlich sind: 1. ein anderer Ausschnitt aus der außersprachlichen pse_303.032
Gesamtwirklichkeit, nämlich einer, der den Alltag pse_303.033
und gewöhnliche Menschen herausgreift, und 2. eine pse_303.034
größere Blicknähe zu dieser Wirklichkeit. Dadurch ergeben pse_303.035
sich zwangsläufig erste Merkmale der künstlerischen Gestaltung: pse_303.036
Blicknähe zum Gewöhnlichen läßt die geistige Herrschaft pse_303.037
im Gestalten eher zurücktreten, damit verliert sich pse_303.038
auch etwas die strenge, wenn auch reichgefüllte Geschlossenheit.

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»Der Auszug der Ziegelschläger fand statt. An der Spitze schritt pse_303.002
das Oberhaupt der Familie in knapp anliegender ausgefranster pse_303.003
Leinwandhose, in zerrissener blauer Barchentjacke. Er hatte pse_303.004
den durchlöcherten Hut schief aufgesetzt; sein rotes, betrunkenes pse_303.005
Gesicht war gedunsen; seine Lippen stießen Flüche hervor pse_303.006
gegen den Pfaffen und die Pfaffenknechte, die ihn um pse_303.007
sein redliches Broterwerb gebracht.«

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Es ist sofort deutlich, daß die Dichterin einen ganz anderen pse_303.009
Ausschnitt aus der Wirklichkeit erfaßt und gestaltet: es ist pse_303.010
eine außersprachliche Wirklichkeit des gewöhnlichen Alltags, pse_303.011
die aus aller Nähe sprachlich geprägt wird. Das zeigt der pse_303.012
Wortschatz sofort. Das gewöhnliche Leben gewöhnlicher pse_303.013
Menschen stellt die Dichtung dar, sogar mit einem Zuge ins pse_303.014
Soziale, d. h. die Spannung der Schichten wird fühlbar in pse_303.015
solcher Darstellung. Der Satzbau ist einfach, beinahe hart. pse_303.016
In vielen Darstellungen dieser Form — besonders in Erzählungen pse_303.017
— werden Teile sachdarstellerischer Haltung eingefügt. pse_303.018
Dabei fällt auch an der angeführten Stelle auf, daß pse_303.019
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zu einer höheren Einheit zusammenwachsen, sondern mehr pse_303.021
locker nebeneinander stehen: man beachte, wie der Ausdruck pse_303.022
»das Oberhaupt der Familie« beinahe hart an das folgende pse_303.023
stößt; besonders deutlich ist das beim Übergang vom gedunsenen pse_303.024
Gesicht zu den Flüchen, die die Lippen ausstoßen. Das pse_303.025
verrät nicht bloß eine gewisse Lockerung im Aufbau, der pse_303.026
eben da und dort Züge aus dem Alltagsleben herausgreift pse_303.027
und nebeneinanderstellt, sondern auch, daß durch die Nähe pse_303.028
zur Alltagswirklichkeit sich vor allem die Einzelheiten aufdrängen pse_303.029
und der Überblick übers Ganze eher zurücktritt. pse_303.030
Damit haben wir nun zwei Züge erkannt, die dem Realismus pse_303.031
wesentlich sind: 1. ein anderer Ausschnitt aus der außersprachlichen pse_303.032
Gesamtwirklichkeit, nämlich einer, der den Alltag pse_303.033
und gewöhnliche Menschen herausgreift, und 2. eine pse_303.034
größere Blicknähe zu dieser Wirklichkeit. Dadurch ergeben pse_303.035
sich zwangsläufig erste Merkmale der künstlerischen Gestaltung: pse_303.036
Blicknähe zum Gewöhnlichen läßt die geistige Herrschaft pse_303.037
im Gestalten eher zurücktreten, damit verliert sich pse_303.038
auch etwas die strenge, wenn auch reichgefüllte Geschlossenheit.

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[303/0319] pse_303.001 »Der Auszug der Ziegelschläger fand statt. An der Spitze schritt pse_303.002 das Oberhaupt der Familie in knapp anliegender ausgefranster pse_303.003 Leinwandhose, in zerrissener blauer Barchentjacke. Er hatte pse_303.004 den durchlöcherten Hut schief aufgesetzt; sein rotes, betrunkenes pse_303.005 Gesicht war gedunsen; seine Lippen stießen Flüche hervor pse_303.006 gegen den Pfaffen und die Pfaffenknechte, die ihn um pse_303.007 sein redliches Broterwerb gebracht.« pse_303.008 Es ist sofort deutlich, daß die Dichterin einen ganz anderen pse_303.009 Ausschnitt aus der Wirklichkeit erfaßt und gestaltet: es ist pse_303.010 eine außersprachliche Wirklichkeit des gewöhnlichen Alltags, pse_303.011 die aus aller Nähe sprachlich geprägt wird. Das zeigt der pse_303.012 Wortschatz sofort. Das gewöhnliche Leben gewöhnlicher pse_303.013 Menschen stellt die Dichtung dar, sogar mit einem Zuge ins pse_303.014 Soziale, d. h. die Spannung der Schichten wird fühlbar in pse_303.015 solcher Darstellung. Der Satzbau ist einfach, beinahe hart. pse_303.016 In vielen Darstellungen dieser Form — besonders in Erzählungen pse_303.017 — werden Teile sachdarstellerischer Haltung eingefügt. pse_303.018 Dabei fällt auch an der angeführten Stelle auf, daß pse_303.019 die sprachlichen Bilder nicht eng zusammengefügt sind, nicht pse_303.020 zu einer höheren Einheit zusammenwachsen, sondern mehr pse_303.021 locker nebeneinander stehen: man beachte, wie der Ausdruck pse_303.022 »das Oberhaupt der Familie« beinahe hart an das folgende pse_303.023 stößt; besonders deutlich ist das beim Übergang vom gedunsenen pse_303.024 Gesicht zu den Flüchen, die die Lippen ausstoßen. Das pse_303.025 verrät nicht bloß eine gewisse Lockerung im Aufbau, der pse_303.026 eben da und dort Züge aus dem Alltagsleben herausgreift pse_303.027 und nebeneinanderstellt, sondern auch, daß durch die Nähe pse_303.028 zur Alltagswirklichkeit sich vor allem die Einzelheiten aufdrängen pse_303.029 und der Überblick übers Ganze eher zurücktritt. pse_303.030 Damit haben wir nun zwei Züge erkannt, die dem Realismus pse_303.031 wesentlich sind: 1. ein anderer Ausschnitt aus der außersprachlichen pse_303.032 Gesamtwirklichkeit, nämlich einer, der den Alltag pse_303.033 und gewöhnliche Menschen herausgreift, und 2. eine pse_303.034 größere Blicknähe zu dieser Wirklichkeit. Dadurch ergeben pse_303.035 sich zwangsläufig erste Merkmale der künstlerischen Gestaltung: pse_303.036 Blicknähe zum Gewöhnlichen läßt die geistige Herrschaft pse_303.037 im Gestalten eher zurücktreten, damit verliert sich pse_303.038 auch etwas die strenge, wenn auch reichgefüllte Geschlossenheit.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/319>, abgerufen am 14.05.2024.