Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_302.001
kleine Einsprengsel anderer Ebenen sind in größeren Dichtungen pse_302.002
möglich, besonders wird sich die mittlere manchmal pse_302.003
finden, damit die erhabene nicht durch die Dauer gedrückt pse_302.004
wird.

pse_302.005
Eine Sonderart der idealistischen Gestaltungsform liegt besonders pse_302.006
dann vor, wenn alle diese Züge bewußt herausgearbeitet pse_302.007
sind; wenn vor allem eine strenge Auslese aus der pse_302.008
Wirklichkeit in die Dichtung eingeformt ist, wenn die Verwesentlichung pse_302.009
durch reiche Symbole stark betont wird und pse_302.010
wenn vor allem die Sprache strenge Distanz von allem zu pse_302.011
Wirklichkeitsnahen hält. So ergibt sich von selber strenge pse_302.012
Geschlossenheit der Anlage und erhabene Ebene. Es ist das pse_302.013
der Symbolismus, der ja auch geschichtlich als Gegenbewegung pse_302.014
gegen den Naturalismus auftritt. Die folgenden Verse aus pse_302.015
Stefan Georges "Jahr der Seele" zeigen besonders deutlich, pse_302.016
wie auch Alltagsgegenstände, die ins Gedicht eingeformt pse_302.017
sind, alles Irdische und zu Nahe abstreifen und beinahe wie pse_302.018
Wesenheiten wirken; der Dichter erreicht das durch die Gepflegtheit pse_302.019
der Satzführung, durch den Wortzusammenklang pse_302.020
in den Bildern und durch die volle Lautung.

pse_302.021
Du willst am mauerbrunnen wasser schöpfen pse_302.022
Und spielend in die kühlen strahlen langen. pse_302.023
Doch scheint es mir du wendest mit befangen pse_302.024
Die hände von den beiden löwenköpfen.
pse_302.025
Den ring mit dem erblindeten juwele pse_302.026
Ich suchte dir vom finger ihn zu drehen. pse_302.027
Dein feuchtes auge küßte meine seele pse_302.028
als antwort auf mein unverhülltes flehen.

pse_302.029
Der idealistischen steht die realistische Gestaltungsform pse_302.030
gegenüber. Selbstverständlich gibt es Übergänge. Aber gerade pse_302.031
solche lassen sich in ihrer künstlerischen Struktur erkennen, pse_302.032
wenn man sieht, wie Züge der einen und der anderen pse_302.033
Form verflochten sind. Der Begriff des Realismus ist besonders pse_302.034
unklar. Denn die einen sprechen davon im Blick bloß auf die pse_302.035
gestaltete Welt, die anderen im Blick auf bestimmte Gestaltungszüge pse_302.036
in der Sprache und im Aufbau. Daß zwischen pse_302.037
beiden Zusammenhänge bestehen, ist klar. Zunächst ein pse_302.038
Beispiel aus M. von Ebner-Eschenbachs "Gemeindekind":

pse_302.001
kleine Einsprengsel anderer Ebenen sind in größeren Dichtungen pse_302.002
möglich, besonders wird sich die mittlere manchmal pse_302.003
finden, damit die erhabene nicht durch die Dauer gedrückt pse_302.004
wird.

pse_302.005
Eine Sonderart der idealistischen Gestaltungsform liegt besonders pse_302.006
dann vor, wenn alle diese Züge bewußt herausgearbeitet pse_302.007
sind; wenn vor allem eine strenge Auslese aus der pse_302.008
Wirklichkeit in die Dichtung eingeformt ist, wenn die Verwesentlichung pse_302.009
durch reiche Symbole stark betont wird und pse_302.010
wenn vor allem die Sprache strenge Distanz von allem zu pse_302.011
Wirklichkeitsnahen hält. So ergibt sich von selber strenge pse_302.012
Geschlossenheit der Anlage und erhabene Ebene. Es ist das pse_302.013
der Symbolismus, der ja auch geschichtlich als Gegenbewegung pse_302.014
gegen den Naturalismus auftritt. Die folgenden Verse aus pse_302.015
Stefan Georges »Jahr der Seele« zeigen besonders deutlich, pse_302.016
wie auch Alltagsgegenstände, die ins Gedicht eingeformt pse_302.017
sind, alles Irdische und zu Nahe abstreifen und beinahe wie pse_302.018
Wesenheiten wirken; der Dichter erreicht das durch die Gepflegtheit pse_302.019
der Satzführung, durch den Wortzusammenklang pse_302.020
in den Bildern und durch die volle Lautung.

pse_302.021
Du willst am mauerbrunnen wasser schöpfen pse_302.022
Und spielend in die kühlen strahlen langen. pse_302.023
Doch scheint es mir du wendest mit befangen pse_302.024
Die hände von den beiden löwenköpfen.
pse_302.025
Den ring mit dem erblindeten juwele pse_302.026
Ich suchte dir vom finger ihn zu drehen. pse_302.027
Dein feuchtes auge küßte meine seele pse_302.028
als antwort auf mein unverhülltes flehen.

pse_302.029
Der idealistischen steht die realistische Gestaltungsform pse_302.030
gegenüber. Selbstverständlich gibt es Übergänge. Aber gerade pse_302.031
solche lassen sich in ihrer künstlerischen Struktur erkennen, pse_302.032
wenn man sieht, wie Züge der einen und der anderen pse_302.033
Form verflochten sind. Der Begriff des Realismus ist besonders pse_302.034
unklar. Denn die einen sprechen davon im Blick bloß auf die pse_302.035
gestaltete Welt, die anderen im Blick auf bestimmte Gestaltungszüge pse_302.036
in der Sprache und im Aufbau. Daß zwischen pse_302.037
beiden Zusammenhänge bestehen, ist klar. Zunächst ein pse_302.038
Beispiel aus M. von Ebner-Eschenbachs »Gemeindekind«:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0318" n="302"/><lb n="pse_302.001"/>
kleine Einsprengsel anderer Ebenen sind in größeren Dichtungen <lb n="pse_302.002"/>
möglich, besonders wird sich die mittlere manchmal <lb n="pse_302.003"/>
finden, damit die erhabene nicht durch die Dauer gedrückt <lb n="pse_302.004"/>
wird.</p>
            <p><lb n="pse_302.005"/>
Eine Sonderart der idealistischen Gestaltungsform liegt besonders <lb n="pse_302.006"/>
dann vor, wenn alle diese Züge bewußt herausgearbeitet <lb n="pse_302.007"/>
sind; wenn vor allem eine strenge Auslese aus der <lb n="pse_302.008"/>
Wirklichkeit in die Dichtung eingeformt ist, wenn die Verwesentlichung <lb n="pse_302.009"/>
durch reiche Symbole stark betont wird und <lb n="pse_302.010"/>
wenn vor allem die Sprache strenge Distanz von allem zu <lb n="pse_302.011"/>
Wirklichkeitsnahen hält. So ergibt sich von selber strenge <lb n="pse_302.012"/>
Geschlossenheit der Anlage und erhabene Ebene. Es ist das <lb n="pse_302.013"/>
der <hi rendition="#i">Symbolismus,</hi> der ja auch geschichtlich als Gegenbewegung <lb n="pse_302.014"/>
gegen den Naturalismus auftritt. Die folgenden Verse aus <lb n="pse_302.015"/>
Stefan Georges »Jahr der Seele« zeigen besonders deutlich, <lb n="pse_302.016"/>
wie auch Alltagsgegenstände, die ins Gedicht eingeformt <lb n="pse_302.017"/>
sind, alles Irdische und zu Nahe abstreifen und beinahe wie <lb n="pse_302.018"/>
Wesenheiten wirken; der Dichter erreicht das durch die Gepflegtheit <lb n="pse_302.019"/>
der Satzführung, durch den Wortzusammenklang <lb n="pse_302.020"/>
in den Bildern und durch die volle Lautung.</p>
            <lb n="pse_302.021"/>
            <lg>
              <l> <hi rendition="#aq">Du willst am mauerbrunnen wasser schöpfen</hi> </l>
              <lb n="pse_302.022"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Und spielend in die kühlen strahlen langen.</hi> </l>
              <lb n="pse_302.023"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Doch scheint es mir du wendest mit befangen</hi> </l>
              <lb n="pse_302.024"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Die hände von den beiden löwenköpfen. </hi> </l>
            </lg>
            <lg>
              <lb n="pse_302.025"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Den ring mit dem erblindeten juwele</hi> </l>
              <lb n="pse_302.026"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Ich suchte dir vom finger ihn zu drehen.</hi> </l>
              <lb n="pse_302.027"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Dein feuchtes auge küßte meine seele</hi> </l>
              <lb n="pse_302.028"/>
              <l> <hi rendition="#aq">als antwort auf mein unverhülltes flehen.</hi> </l>
            </lg>
            <p><lb n="pse_302.029"/>
Der idealistischen steht die realistische Gestaltungsform <lb n="pse_302.030"/>
gegenüber. Selbstverständlich gibt es Übergänge. Aber gerade <lb n="pse_302.031"/>
solche lassen sich in ihrer künstlerischen Struktur erkennen, <lb n="pse_302.032"/>
wenn man sieht, wie Züge der einen und der anderen <lb n="pse_302.033"/>
Form verflochten sind. Der Begriff des <hi rendition="#i">Realismus</hi> ist besonders <lb n="pse_302.034"/>
unklar. Denn die einen sprechen davon im Blick bloß auf die <lb n="pse_302.035"/>
gestaltete Welt, die anderen im Blick auf bestimmte Gestaltungszüge <lb n="pse_302.036"/>
in der Sprache und im Aufbau. Daß zwischen <lb n="pse_302.037"/>
beiden Zusammenhänge bestehen, ist klar. Zunächst ein <lb n="pse_302.038"/>
Beispiel aus M. von Ebner-Eschenbachs »Gemeindekind«:
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[302/0318] pse_302.001 kleine Einsprengsel anderer Ebenen sind in größeren Dichtungen pse_302.002 möglich, besonders wird sich die mittlere manchmal pse_302.003 finden, damit die erhabene nicht durch die Dauer gedrückt pse_302.004 wird. pse_302.005 Eine Sonderart der idealistischen Gestaltungsform liegt besonders pse_302.006 dann vor, wenn alle diese Züge bewußt herausgearbeitet pse_302.007 sind; wenn vor allem eine strenge Auslese aus der pse_302.008 Wirklichkeit in die Dichtung eingeformt ist, wenn die Verwesentlichung pse_302.009 durch reiche Symbole stark betont wird und pse_302.010 wenn vor allem die Sprache strenge Distanz von allem zu pse_302.011 Wirklichkeitsnahen hält. So ergibt sich von selber strenge pse_302.012 Geschlossenheit der Anlage und erhabene Ebene. Es ist das pse_302.013 der Symbolismus, der ja auch geschichtlich als Gegenbewegung pse_302.014 gegen den Naturalismus auftritt. Die folgenden Verse aus pse_302.015 Stefan Georges »Jahr der Seele« zeigen besonders deutlich, pse_302.016 wie auch Alltagsgegenstände, die ins Gedicht eingeformt pse_302.017 sind, alles Irdische und zu Nahe abstreifen und beinahe wie pse_302.018 Wesenheiten wirken; der Dichter erreicht das durch die Gepflegtheit pse_302.019 der Satzführung, durch den Wortzusammenklang pse_302.020 in den Bildern und durch die volle Lautung. pse_302.021 Du willst am mauerbrunnen wasser schöpfen pse_302.022 Und spielend in die kühlen strahlen langen. pse_302.023 Doch scheint es mir du wendest mit befangen pse_302.024 Die hände von den beiden löwenköpfen. pse_302.025 Den ring mit dem erblindeten juwele pse_302.026 Ich suchte dir vom finger ihn zu drehen. pse_302.027 Dein feuchtes auge küßte meine seele pse_302.028 als antwort auf mein unverhülltes flehen. pse_302.029 Der idealistischen steht die realistische Gestaltungsform pse_302.030 gegenüber. Selbstverständlich gibt es Übergänge. Aber gerade pse_302.031 solche lassen sich in ihrer künstlerischen Struktur erkennen, pse_302.032 wenn man sieht, wie Züge der einen und der anderen pse_302.033 Form verflochten sind. Der Begriff des Realismus ist besonders pse_302.034 unklar. Denn die einen sprechen davon im Blick bloß auf die pse_302.035 gestaltete Welt, die anderen im Blick auf bestimmte Gestaltungszüge pse_302.036 in der Sprache und im Aufbau. Daß zwischen pse_302.037 beiden Zusammenhänge bestehen, ist klar. Zunächst ein pse_302.038 Beispiel aus M. von Ebner-Eschenbachs »Gemeindekind«:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/318
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/318>, abgerufen am 14.05.2024.