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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Walzel spricht noch von einer gotischen Form. Hier geht es pse_284.002
um die Heftigkeit, mit der sich die Glieder aneinander fügen, pse_284.003
jeder Neuansatz ist deutlich gekennzeichnet, aber nicht durch pse_284.004
eine logische Verbindung, sondern durch Sprünge, durch pse_284.005
Steigerungen, wie sie zugleich Ausdruck starker Wallungen, pse_284.006
plötzlicher Affektausbrüche sind. Die Bauform des Expressionismus pse_284.007
dürfte das deutlichste Beispiel sein. In dieser Gestaltung pse_284.008
kommt es am ehesten zu Zerreißungen und Brüchen.

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Es ist mit dieser Andeutung dreier Typen von Aufbau pse_284.010
nicht gesagt, daß es alle Möglichkeiten sind, oder daß es nicht pse_284.011
Verflechtungen, Mischungen gäbe. Sie zeigen aber, daß es pse_284.012
kaum angeht, nur mit dem Begriff des Organismus dem pse_284.013
künstlerischen Aufbau von Dichtungen nahezukommen.

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Gestaltungsebenen

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Vergleichen wir ein kräftiges Mundartgedicht aus der Bergbauernwelt pse_284.016
mit einer Hymne von Hölderlin, eine naturalistische pse_284.017
Prosaerzählung aus der Welt des armen Fabrikarbeiters pse_284.018
mit einer Renaissance-Novelle von C. F. Meyer oder eine der pse_284.019
glänzenden Possen Nestroys aus der Wiener Vorstadt mit pse_284.020
Goethes "Iphigenie": die künstlerische Vollendung muß nicht pse_284.021
notwendig einen Unterschied machen, aber die künstlerischen pse_284.022
Ebenen sind stark und eindeutig voneinander geschieden. Mit pse_284.023
ihnen und durch sie unterscheiden sich auch die inneren Haltungen, pse_284.024
die Art der Gemüthaftigkeit. Wir sprechen von pse_284.025
Gestaltungsebenen.

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Wir können mit einem kurzen geschichtlichen Blick beginnen. pse_284.027
Schon im Altertum kannte man drei solcher Gestaltungsebenen pse_284.028
oder Stilarten, wie man sich auch ausdrückt. Man pse_284.029
vermutet, daß Theophrast als erster sie festgehalten hat. Auf pse_284.030
alle Fälle sprechen sich Cicero im "Orator" und dann später pse_284.031
Quintilian deutlich darüber aus. Sie unterscheiden drei genera pse_284.032
dicendi: das genus humile, das genus medium und das genus pse_284.033
sublime. Cicero beschreibt sie mit einer Fülle von näheren pse_284.034
Einzelbestimmungen. Statt humile heißt es auch tenue oder pse_284.035
subtile, statt medium mediocre oder floridum, statt sublime

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Walzel spricht noch von einer gotischen Form. Hier geht es pse_284.002
um die Heftigkeit, mit der sich die Glieder aneinander fügen, pse_284.003
jeder Neuansatz ist deutlich gekennzeichnet, aber nicht durch pse_284.004
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dürfte das deutlichste Beispiel sein. In dieser Gestaltung pse_284.008
kommt es am ehesten zu Zerreißungen und Brüchen.

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Es ist mit dieser Andeutung dreier Typen von Aufbau pse_284.010
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Verflechtungen, Mischungen gäbe. Sie zeigen aber, daß es pse_284.012
kaum angeht, nur mit dem Begriff des Organismus dem pse_284.013
künstlerischen Aufbau von Dichtungen nahezukommen.

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Vergleichen wir ein kräftiges Mundartgedicht aus der Bergbauernwelt pse_284.016
mit einer Hymne von Hölderlin, eine naturalistische pse_284.017
Prosaerzählung aus der Welt des armen Fabrikarbeiters pse_284.018
mit einer Renaissance-Novelle von C. F. Meyer oder eine der pse_284.019
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Goethes »Iphigenie«: die künstlerische Vollendung muß nicht pse_284.021
notwendig einen Unterschied machen, aber die künstlerischen pse_284.022
Ebenen sind stark und eindeutig voneinander geschieden. Mit pse_284.023
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Wir können mit einem kurzen geschichtlichen Blick beginnen. pse_284.027
Schon im Altertum kannte man drei solcher Gestaltungsebenen pse_284.028
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/300>, abgerufen am 10.05.2024.