Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_280.001
sein kann. Deutlich bildet eine Groteske gerade in ihrer pse_280.002
inneren Zerrissenheit, Widersprüchlichkeit und Verfremdung pse_280.003
ein einheitliches Ganzes. Es erwächst aus den durchgehenden pse_280.004
Eigenheiten, die die Gespanntheit kennzeichnen. Zerrissenheit pse_280.005
als Gesamtmerkmal kann also geradezu ganzheitbildend sein. pse_280.006
Genauere Untersuchung brauchte es, wo hier die Grenzen pse_280.007
liegen und wo totale, daher kunstzerstörende Zerrissenheit pse_280.008
beginnt. Es ist das wohl auch Sache des Geschmacks, d. h. pse_280.009
der Werteinstellung der Leser. Die Grenzen liegen auf keinen pse_280.010
Fall fest. Streng klassische Einstellung wird sie eng ziehen, die pse_280.011
moderne Kunsteinstellung aber ist imstande, größte Gespanntheit pse_280.012
noch als Ganzheit zu erleben. Das hängt mit der Entfaltung pse_280.013
des menschlichen Geistes zusammen, der mit der allgemeinen pse_280.014
Zivilisationsentwicklung gleichen Schritt hält. Auch pse_280.015
beim Blick in die Tiefe ergibt sich eine Ganzheit. Das Wesentliche, pse_280.016
ja sogar das Absolute kann eben im Zerbrechen, im pse_280.017
Zertrümmerten, im Zerfahrenen gesehen werden. Aber das pse_280.018
ist dann meist ein Durchgang zu neuer Ganzheitstiftung. Ein pse_280.019
Nein wird gesprochen, um zu einem neuen Ja durchzustoßen. pse_280.020
Mit Worten Sprangers: "Den eigentlichen Gipfel unseres pse_280.021
Problems erreichen wir mit dem Fall, daß eine lebende Generation, pse_280.022
obwohl sie das Vermögen dazu hätte, die vorgefundene pse_280.023
Kultur aus ethischer Entscheidung heraus nicht will. In dieser pse_280.024
Wertdivergenz zwischen der objektiven Kultur und dem pse_280.025
subjektiven Kulturwillen kündigt sich eine tiefgehende Strukturveränderung pse_280.026
der menschlichen Geistesart an. Und keineswegs pse_280.027
liegt darin notwendig ein Anstoß zum Kulturverfall. pse_280.028
Vielmehr beruht darauf aller Fortschritt, denn was diesen pse_280.029
Namen verdient, kommt nur aus einer solchen radikalen Umkehr, pse_280.030
aus einer totalen >Wiedergeburt<, die immer geistige pse_280.031
Revolution bedeutet."

pse_280.032
Die Art der Ganzheit

pse_280.033
Wenn wir die Art betrachten, wie die Glieder sich zum pse_280.034
Ganzen zusammenfügen, dann stoßen wir auf das Problem pse_280.035
der Gestalt. Der Begriff ist häufig geworden, seit die Psychologie pse_280.036
seelische Ganzheiten, seelische Strukturen zu sehen gelernt

pse_280.001
sein kann. Deutlich bildet eine Groteske gerade in ihrer pse_280.002
inneren Zerrissenheit, Widersprüchlichkeit und Verfremdung pse_280.003
ein einheitliches Ganzes. Es erwächst aus den durchgehenden pse_280.004
Eigenheiten, die die Gespanntheit kennzeichnen. Zerrissenheit pse_280.005
als Gesamtmerkmal kann also geradezu ganzheitbildend sein. pse_280.006
Genauere Untersuchung brauchte es, wo hier die Grenzen pse_280.007
liegen und wo totale, daher kunstzerstörende Zerrissenheit pse_280.008
beginnt. Es ist das wohl auch Sache des Geschmacks, d. h. pse_280.009
der Werteinstellung der Leser. Die Grenzen liegen auf keinen pse_280.010
Fall fest. Streng klassische Einstellung wird sie eng ziehen, die pse_280.011
moderne Kunsteinstellung aber ist imstande, größte Gespanntheit pse_280.012
noch als Ganzheit zu erleben. Das hängt mit der Entfaltung pse_280.013
des menschlichen Geistes zusammen, der mit der allgemeinen pse_280.014
Zivilisationsentwicklung gleichen Schritt hält. Auch pse_280.015
beim Blick in die Tiefe ergibt sich eine Ganzheit. Das Wesentliche, pse_280.016
ja sogar das Absolute kann eben im Zerbrechen, im pse_280.017
Zertrümmerten, im Zerfahrenen gesehen werden. Aber das pse_280.018
ist dann meist ein Durchgang zu neuer Ganzheitstiftung. Ein pse_280.019
Nein wird gesprochen, um zu einem neuen Ja durchzustoßen. pse_280.020
Mit Worten Sprangers: »Den eigentlichen Gipfel unseres pse_280.021
Problems erreichen wir mit dem Fall, daß eine lebende Generation, pse_280.022
obwohl sie das Vermögen dazu hätte, die vorgefundene pse_280.023
Kultur aus ethischer Entscheidung heraus nicht will. In dieser pse_280.024
Wertdivergenz zwischen der objektiven Kultur und dem pse_280.025
subjektiven Kulturwillen kündigt sich eine tiefgehende Strukturveränderung pse_280.026
der menschlichen Geistesart an. Und keineswegs pse_280.027
liegt darin notwendig ein Anstoß zum Kulturverfall. pse_280.028
Vielmehr beruht darauf aller Fortschritt, denn was diesen pse_280.029
Namen verdient, kommt nur aus einer solchen radikalen Umkehr, pse_280.030
aus einer totalen ›Wiedergeburt‹, die immer geistige pse_280.031
Revolution bedeutet.«

pse_280.032
Die Art der Ganzheit

pse_280.033
Wenn wir die Art betrachten, wie die Glieder sich zum pse_280.034
Ganzen zusammenfügen, dann stoßen wir auf das Problem pse_280.035
der Gestalt. Der Begriff ist häufig geworden, seit die Psychologie pse_280.036
seelische Ganzheiten, seelische Strukturen zu sehen gelernt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0296" n="280"/><lb n="pse_280.001"/>
sein kann. Deutlich bildet eine Groteske gerade in ihrer <lb n="pse_280.002"/>
inneren Zerrissenheit, Widersprüchlichkeit und Verfremdung <lb n="pse_280.003"/>
ein einheitliches Ganzes. Es erwächst aus den durchgehenden <lb n="pse_280.004"/>
Eigenheiten, die die Gespanntheit kennzeichnen. Zerrissenheit <lb n="pse_280.005"/>
als Gesamtmerkmal kann also geradezu ganzheitbildend sein. <lb n="pse_280.006"/>
Genauere Untersuchung brauchte es, wo hier die Grenzen <lb n="pse_280.007"/>
liegen und wo totale, daher kunstzerstörende Zerrissenheit <lb n="pse_280.008"/>
beginnt. Es ist das wohl auch Sache des Geschmacks, d. h. <lb n="pse_280.009"/>
der Werteinstellung der Leser. Die Grenzen liegen auf keinen <lb n="pse_280.010"/>
Fall fest. Streng klassische Einstellung wird sie eng ziehen, die <lb n="pse_280.011"/>
moderne Kunsteinstellung aber ist imstande, größte Gespanntheit <lb n="pse_280.012"/>
noch als Ganzheit zu erleben. Das hängt mit der Entfaltung <lb n="pse_280.013"/>
des menschlichen Geistes zusammen, der mit der allgemeinen <lb n="pse_280.014"/>
Zivilisationsentwicklung gleichen Schritt hält. Auch <lb n="pse_280.015"/>
beim Blick in die Tiefe ergibt sich eine Ganzheit. Das Wesentliche, <lb n="pse_280.016"/>
ja sogar das Absolute kann eben im Zerbrechen, im <lb n="pse_280.017"/>
Zertrümmerten, im Zerfahrenen gesehen werden. Aber das <lb n="pse_280.018"/>
ist dann meist ein Durchgang zu neuer Ganzheitstiftung. Ein <lb n="pse_280.019"/>
Nein wird gesprochen, um zu einem neuen Ja durchzustoßen. <lb n="pse_280.020"/>
Mit Worten Sprangers: »Den eigentlichen Gipfel unseres <lb n="pse_280.021"/>
Problems erreichen wir mit dem Fall, daß eine lebende Generation, <lb n="pse_280.022"/>
obwohl sie das Vermögen dazu hätte, die vorgefundene <lb n="pse_280.023"/>
Kultur aus ethischer Entscheidung heraus nicht will. In dieser <lb n="pse_280.024"/>
Wertdivergenz zwischen der objektiven Kultur und dem <lb n="pse_280.025"/>
subjektiven Kulturwillen kündigt sich eine tiefgehende Strukturveränderung <lb n="pse_280.026"/>
der menschlichen Geistesart an. Und keineswegs <lb n="pse_280.027"/>
liegt darin notwendig ein Anstoß zum Kulturverfall. <lb n="pse_280.028"/>
Vielmehr beruht darauf aller Fortschritt, denn was diesen <lb n="pse_280.029"/>
Namen verdient, kommt nur aus einer solchen radikalen Umkehr, <lb n="pse_280.030"/>
aus einer totalen &#x203A;Wiedergeburt&#x2039;, die immer geistige <lb n="pse_280.031"/>
Revolution bedeutet.«</p>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="pse_280.032"/>
              <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#i">Die Art der Ganzheit</hi> </hi> </hi> </head>
              <p><lb n="pse_280.033"/>
Wenn wir die Art betrachten, wie die Glieder sich zum <lb n="pse_280.034"/>
Ganzen zusammenfügen, dann stoßen wir auf das Problem <lb n="pse_280.035"/>
der <hi rendition="#i">Gestalt.</hi> Der Begriff ist häufig geworden, seit die Psychologie <lb n="pse_280.036"/>
seelische Ganzheiten, seelische Strukturen zu sehen gelernt
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[280/0296] pse_280.001 sein kann. Deutlich bildet eine Groteske gerade in ihrer pse_280.002 inneren Zerrissenheit, Widersprüchlichkeit und Verfremdung pse_280.003 ein einheitliches Ganzes. Es erwächst aus den durchgehenden pse_280.004 Eigenheiten, die die Gespanntheit kennzeichnen. Zerrissenheit pse_280.005 als Gesamtmerkmal kann also geradezu ganzheitbildend sein. pse_280.006 Genauere Untersuchung brauchte es, wo hier die Grenzen pse_280.007 liegen und wo totale, daher kunstzerstörende Zerrissenheit pse_280.008 beginnt. Es ist das wohl auch Sache des Geschmacks, d. h. pse_280.009 der Werteinstellung der Leser. Die Grenzen liegen auf keinen pse_280.010 Fall fest. Streng klassische Einstellung wird sie eng ziehen, die pse_280.011 moderne Kunsteinstellung aber ist imstande, größte Gespanntheit pse_280.012 noch als Ganzheit zu erleben. Das hängt mit der Entfaltung pse_280.013 des menschlichen Geistes zusammen, der mit der allgemeinen pse_280.014 Zivilisationsentwicklung gleichen Schritt hält. Auch pse_280.015 beim Blick in die Tiefe ergibt sich eine Ganzheit. Das Wesentliche, pse_280.016 ja sogar das Absolute kann eben im Zerbrechen, im pse_280.017 Zertrümmerten, im Zerfahrenen gesehen werden. Aber das pse_280.018 ist dann meist ein Durchgang zu neuer Ganzheitstiftung. Ein pse_280.019 Nein wird gesprochen, um zu einem neuen Ja durchzustoßen. pse_280.020 Mit Worten Sprangers: »Den eigentlichen Gipfel unseres pse_280.021 Problems erreichen wir mit dem Fall, daß eine lebende Generation, pse_280.022 obwohl sie das Vermögen dazu hätte, die vorgefundene pse_280.023 Kultur aus ethischer Entscheidung heraus nicht will. In dieser pse_280.024 Wertdivergenz zwischen der objektiven Kultur und dem pse_280.025 subjektiven Kulturwillen kündigt sich eine tiefgehende Strukturveränderung pse_280.026 der menschlichen Geistesart an. Und keineswegs pse_280.027 liegt darin notwendig ein Anstoß zum Kulturverfall. pse_280.028 Vielmehr beruht darauf aller Fortschritt, denn was diesen pse_280.029 Namen verdient, kommt nur aus einer solchen radikalen Umkehr, pse_280.030 aus einer totalen ›Wiedergeburt‹, die immer geistige pse_280.031 Revolution bedeutet.« pse_280.032 Die Art der Ganzheit pse_280.033 Wenn wir die Art betrachten, wie die Glieder sich zum pse_280.034 Ganzen zusammenfügen, dann stoßen wir auf das Problem pse_280.035 der Gestalt. Der Begriff ist häufig geworden, seit die Psychologie pse_280.036 seelische Ganzheiten, seelische Strukturen zu sehen gelernt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/296
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/296>, abgerufen am 10.05.2024.