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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Zum Aufbau der vorliegenden Poetik ist noch einiges zu pse_012.002
sagen. Eine gleichsam einlinige Anlage von vorn nach hinten pse_012.003
ist unmöglich. Denn schon der Begriff Dichtung ist äußerst pse_012.004
reich und mannigfaltig. Man denke daran, wie Verschiedenartiges pse_012.005
unter ihm zusammengefaßt wird: ein altgermanisches pse_012.006
Heldenlied, "Ulysses" von Joyce, ein Volkslied, Boccaccios pse_012.007
"Decamerone", Goethes "Iphigenie", Hölderlins späte Hymnen, pse_012.008
Rilkes "Duineser Elegien", Kafkas Romane neben denen pse_012.009
Stifters usw. Vor allem aber sind die Sichten, von denen aus pse_012.010
die Dichtung betrachtet werden kann, sehr verschieden. Zwei pse_012.011
sind immer wieder zu unterscheiden: jede Dichtung ist ein pse_012.012
konkretes geschichtliches Gebilde. Daraus ergeben sich Fragen pse_012.013
nach dem Entstehen und seinen Bedingungen bis hinein pse_012.014
in den Schaffensvorgang und nach der Wirkung von der pse_012.015
ersten Aufnahme bis in die letzten Anregungen in der Menschenseele pse_012.016
oder für andere Dichtungen. Dichtung ist aber pse_012.017
auch ein für sich bestehendes, dem Zeitfluß durch seine Gestalt pse_012.018
enthobenes Werk, und nur als solches kann sie ihren pse_012.019
ganzen Reichtum an Werten enthüllen. So werden wir gleichsam pse_012.020
verschiedene feste Standpunkte wählen, von denen aus pse_012.021
wir immer das Ganze der Dichtung anleuchten, soweit pse_012.022
das eben von diesem jeweiligen Standpunkt möglich ist. pse_012.023
In der Auswahl und Zahl dieser Standpunkte möchte eine pse_012.024
Gewähr dafür liegen, daß damit alle Seiten der Dichtung pse_012.025
wirklich zur Sprache kommen. So ergeben sich aber auch pse_012.026
Überschneidungen und Wiederholungen, da ja von jedem pse_012.027
Standpunkt immer wieder auch Gleiches, allerdings in verschiedener pse_012.028
Beleuchtung, gesehen wird. Nichts von einem pse_012.029
Standpunkt Gesehenes ist unbedeutend für die Sicht von einem pse_012.030
nächsten aus, es müßte gleichsam immer alles in einem überblickt pse_012.031
werden können, damit einseitige Auffassungen vermieden pse_012.032
werden.

pse_012.001
Zum Aufbau der vorliegenden Poetik ist noch einiges zu pse_012.002
sagen. Eine gleichsam einlinige Anlage von vorn nach hinten pse_012.003
ist unmöglich. Denn schon der Begriff Dichtung ist äußerst pse_012.004
reich und mannigfaltig. Man denke daran, wie Verschiedenartiges pse_012.005
unter ihm zusammengefaßt wird: ein altgermanisches pse_012.006
Heldenlied, »Ulysses« von Joyce, ein Volkslied, Boccaccios pse_012.007
»Decamerone«, Goethes »Iphigenie«, Hölderlins späte Hymnen, pse_012.008
Rilkes »Duineser Elegien«, Kafkas Romane neben denen pse_012.009
Stifters usw. Vor allem aber sind die Sichten, von denen aus pse_012.010
die Dichtung betrachtet werden kann, sehr verschieden. Zwei pse_012.011
sind immer wieder zu unterscheiden: jede Dichtung ist ein pse_012.012
konkretes geschichtliches Gebilde. Daraus ergeben sich Fragen pse_012.013
nach dem Entstehen und seinen Bedingungen bis hinein pse_012.014
in den Schaffensvorgang und nach der Wirkung von der pse_012.015
ersten Aufnahme bis in die letzten Anregungen in der Menschenseele pse_012.016
oder für andere Dichtungen. Dichtung ist aber pse_012.017
auch ein für sich bestehendes, dem Zeitfluß durch seine Gestalt pse_012.018
enthobenes Werk, und nur als solches kann sie ihren pse_012.019
ganzen Reichtum an Werten enthüllen. So werden wir gleichsam pse_012.020
verschiedene feste Standpunkte wählen, von denen aus pse_012.021
wir immer das Ganze der Dichtung anleuchten, soweit pse_012.022
das eben von diesem jeweiligen Standpunkt möglich ist. pse_012.023
In der Auswahl und Zahl dieser Standpunkte möchte eine pse_012.024
Gewähr dafür liegen, daß damit alle Seiten der Dichtung pse_012.025
wirklich zur Sprache kommen. So ergeben sich aber auch pse_012.026
Überschneidungen und Wiederholungen, da ja von jedem pse_012.027
Standpunkt immer wieder auch Gleiches, allerdings in verschiedener pse_012.028
Beleuchtung, gesehen wird. Nichts von einem pse_012.029
Standpunkt Gesehenes ist unbedeutend für die Sicht von einem pse_012.030
nächsten aus, es müßte gleichsam immer alles in einem überblickt pse_012.031
werden können, damit einseitige Auffassungen vermieden pse_012.032
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[12/0028] pse_012.001 Zum Aufbau der vorliegenden Poetik ist noch einiges zu pse_012.002 sagen. Eine gleichsam einlinige Anlage von vorn nach hinten pse_012.003 ist unmöglich. Denn schon der Begriff Dichtung ist äußerst pse_012.004 reich und mannigfaltig. Man denke daran, wie Verschiedenartiges pse_012.005 unter ihm zusammengefaßt wird: ein altgermanisches pse_012.006 Heldenlied, »Ulysses« von Joyce, ein Volkslied, Boccaccios pse_012.007 »Decamerone«, Goethes »Iphigenie«, Hölderlins späte Hymnen, pse_012.008 Rilkes »Duineser Elegien«, Kafkas Romane neben denen pse_012.009 Stifters usw. Vor allem aber sind die Sichten, von denen aus pse_012.010 die Dichtung betrachtet werden kann, sehr verschieden. Zwei pse_012.011 sind immer wieder zu unterscheiden: jede Dichtung ist ein pse_012.012 konkretes geschichtliches Gebilde. Daraus ergeben sich Fragen pse_012.013 nach dem Entstehen und seinen Bedingungen bis hinein pse_012.014 in den Schaffensvorgang und nach der Wirkung von der pse_012.015 ersten Aufnahme bis in die letzten Anregungen in der Menschenseele pse_012.016 oder für andere Dichtungen. Dichtung ist aber pse_012.017 auch ein für sich bestehendes, dem Zeitfluß durch seine Gestalt pse_012.018 enthobenes Werk, und nur als solches kann sie ihren pse_012.019 ganzen Reichtum an Werten enthüllen. So werden wir gleichsam pse_012.020 verschiedene feste Standpunkte wählen, von denen aus pse_012.021 wir immer das Ganze der Dichtung anleuchten, soweit pse_012.022 das eben von diesem jeweiligen Standpunkt möglich ist. pse_012.023 In der Auswahl und Zahl dieser Standpunkte möchte eine pse_012.024 Gewähr dafür liegen, daß damit alle Seiten der Dichtung pse_012.025 wirklich zur Sprache kommen. So ergeben sich aber auch pse_012.026 Überschneidungen und Wiederholungen, da ja von jedem pse_012.027 Standpunkt immer wieder auch Gleiches, allerdings in verschiedener pse_012.028 Beleuchtung, gesehen wird. Nichts von einem pse_012.029 Standpunkt Gesehenes ist unbedeutend für die Sicht von einem pse_012.030 nächsten aus, es müßte gleichsam immer alles in einem überblickt pse_012.031 werden können, damit einseitige Auffassungen vermieden pse_012.032 werden.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/28>, abgerufen am 21.11.2024.