Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_011.001
also auch die dieses bedeutenden Phänomens, hat pse_011.002
einen Wert. Allein schon so erscheint eine beinahe systematische pse_011.003
Poetik allen Einzelinterpretationen gegenüber als Ordnung pse_011.004
aller Einsichten in Dichtung gerechtfertigt. Freilich pse_011.005
müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß auch sogenannte pse_011.006
Allgemeineinsichten, die das Dauernde, Überalltägliche der pse_011.007
Dichtung ein für allemal feststellen wollen, immer geschichtlich pse_011.008
bedingt sind. Wir erleben und sehen heute Dichtung pse_011.009
anders, als das schon das 18. Jahrhundert vielfach tat, gewiß pse_011.010
aber ganz anders als vergangenere Zeiten. Dichtung ist für pse_011.011
uns vielfach eben eine andere Gegebenheit als früheren Zeiten, pse_011.012
daher werden auch unsere "allgemeinen" Einsichten anders pse_011.013
sein. Das ist das Schicksal jeder Forschung. Die endgültige pse_011.014
Wahrheit läge eben erst dem Geiste offen, der gleichsam alle pse_011.015
Möglichkeiten, Dichtung zu erleben und zu erfassen, umspannen pse_011.016
könnte. Jeder Forscher und jede Forschergeneration pse_011.017
bewegt sich gleichsam jeweils auf einem anderen Radius von pse_011.018
der Peripherie ins Zentrum. Trotzdem kann die Poetik pse_011.019
Grundlagen für jede weitere wissenschaftliche Tätigkeit auf pse_011.020
dem Gebiete der Literatur geben. Auch für die Literaturgeschichte pse_011.021
gilt das. Denn die geschichtliche Bedingtheit aller pse_011.022
Dichtung gehört ja auch zu ihrem Wesen, ist also auch in der pse_011.023
Poetik zu berücksichtigen. Vor allem aber ist die Poetik pse_011.024
wichtig für die Interpretation, da sie Grundlagen und Grundbegriffe pse_011.025
zum Verständnis der Dichtung gibt. Poetik und pse_011.026
Interpretation begegnen sich auf halbem Weg. Die Interpretation pse_011.027
führt zu Einsichten in Dichtung überhaupt, setzt pse_011.028
aber ein allgemeines Wissen von Dichtung voraus; die pse_011.029
Poetik dagegen fußt, um zu ihren allgemeinen Einsichten zu pse_011.030
kommen, auf der genauen Betrachtung von Einzeldichtungen.

pse_011.031
Neben dem Erkenntniswert der rein wissenschaftlichen Erforschung pse_011.032
der Dichtung überhaupt kommt der Poetik aber pse_011.033
auch ein Dienstwert zu: sie vermag den, der tiefer in Dichtungen pse_011.034
eindringen will, der die Erlebnismöglichkeiten, die pse_011.035
sie bietet, reicher ausschöpfen will, in diesem Bestreben mannigfach pse_011.036
zu fördern. Denn sie weist ihn auf manches hin, pse_011.037
was er sonst übersehen würde und was doch sein Erleben pse_011.038
intensivieren kann.

pse_011.001
also auch die dieses bedeutenden Phänomens, hat pse_011.002
einen Wert. Allein schon so erscheint eine beinahe systematische pse_011.003
Poetik allen Einzelinterpretationen gegenüber als Ordnung pse_011.004
aller Einsichten in Dichtung gerechtfertigt. Freilich pse_011.005
müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß auch sogenannte pse_011.006
Allgemeineinsichten, die das Dauernde, Überalltägliche der pse_011.007
Dichtung ein für allemal feststellen wollen, immer geschichtlich pse_011.008
bedingt sind. Wir erleben und sehen heute Dichtung pse_011.009
anders, als das schon das 18. Jahrhundert vielfach tat, gewiß pse_011.010
aber ganz anders als vergangenere Zeiten. Dichtung ist für pse_011.011
uns vielfach eben eine andere Gegebenheit als früheren Zeiten, pse_011.012
daher werden auch unsere »allgemeinen« Einsichten anders pse_011.013
sein. Das ist das Schicksal jeder Forschung. Die endgültige pse_011.014
Wahrheit läge eben erst dem Geiste offen, der gleichsam alle pse_011.015
Möglichkeiten, Dichtung zu erleben und zu erfassen, umspannen pse_011.016
könnte. Jeder Forscher und jede Forschergeneration pse_011.017
bewegt sich gleichsam jeweils auf einem anderen Radius von pse_011.018
der Peripherie ins Zentrum. Trotzdem kann die Poetik pse_011.019
Grundlagen für jede weitere wissenschaftliche Tätigkeit auf pse_011.020
dem Gebiete der Literatur geben. Auch für die Literaturgeschichte pse_011.021
gilt das. Denn die geschichtliche Bedingtheit aller pse_011.022
Dichtung gehört ja auch zu ihrem Wesen, ist also auch in der pse_011.023
Poetik zu berücksichtigen. Vor allem aber ist die Poetik pse_011.024
wichtig für die Interpretation, da sie Grundlagen und Grundbegriffe pse_011.025
zum Verständnis der Dichtung gibt. Poetik und pse_011.026
Interpretation begegnen sich auf halbem Weg. Die Interpretation pse_011.027
führt zu Einsichten in Dichtung überhaupt, setzt pse_011.028
aber ein allgemeines Wissen von Dichtung voraus; die pse_011.029
Poetik dagegen fußt, um zu ihren allgemeinen Einsichten zu pse_011.030
kommen, auf der genauen Betrachtung von Einzeldichtungen.

pse_011.031
Neben dem Erkenntniswert der rein wissenschaftlichen Erforschung pse_011.032
der Dichtung überhaupt kommt der Poetik aber pse_011.033
auch ein Dienstwert zu: sie vermag den, der tiefer in Dichtungen pse_011.034
eindringen will, der die Erlebnismöglichkeiten, die pse_011.035
sie bietet, reicher ausschöpfen will, in diesem Bestreben mannigfach pse_011.036
zu fördern. Denn sie weist ihn auf manches hin, pse_011.037
was er sonst übersehen würde und was doch sein Erleben pse_011.038
intensivieren kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0027" n="11"/><lb n="pse_011.001"/>
also auch die dieses bedeutenden Phänomens, hat <lb n="pse_011.002"/>
einen Wert. Allein schon so erscheint eine beinahe systematische <lb n="pse_011.003"/>
Poetik allen Einzelinterpretationen gegenüber als Ordnung <lb n="pse_011.004"/>
aller Einsichten in Dichtung gerechtfertigt. Freilich <lb n="pse_011.005"/>
müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß auch sogenannte <lb n="pse_011.006"/>
Allgemeineinsichten, die das Dauernde, Überalltägliche der <lb n="pse_011.007"/>
Dichtung ein für allemal feststellen wollen, immer geschichtlich <lb n="pse_011.008"/>
bedingt sind. Wir erleben und sehen heute Dichtung <lb n="pse_011.009"/>
anders, als das schon das 18. Jahrhundert vielfach tat, gewiß <lb n="pse_011.010"/>
aber ganz anders als vergangenere Zeiten. Dichtung ist für <lb n="pse_011.011"/>
uns vielfach eben eine andere Gegebenheit als früheren Zeiten, <lb n="pse_011.012"/>
daher werden auch unsere »allgemeinen« Einsichten anders <lb n="pse_011.013"/>
sein. Das ist das Schicksal jeder Forschung. Die endgültige <lb n="pse_011.014"/>
Wahrheit läge eben erst dem Geiste offen, der gleichsam alle <lb n="pse_011.015"/>
Möglichkeiten, Dichtung zu erleben und zu erfassen, umspannen <lb n="pse_011.016"/>
könnte. Jeder Forscher und jede Forschergeneration <lb n="pse_011.017"/>
bewegt sich gleichsam jeweils auf einem anderen Radius von <lb n="pse_011.018"/>
der Peripherie ins Zentrum. Trotzdem kann die Poetik <lb n="pse_011.019"/>
Grundlagen für jede weitere wissenschaftliche Tätigkeit auf <lb n="pse_011.020"/>
dem Gebiete der Literatur geben. Auch für die Literaturgeschichte <lb n="pse_011.021"/>
gilt das. Denn die geschichtliche Bedingtheit aller <lb n="pse_011.022"/>
Dichtung gehört ja auch zu ihrem Wesen, ist also auch in der <lb n="pse_011.023"/>
Poetik zu berücksichtigen. Vor allem aber ist die Poetik <lb n="pse_011.024"/>
wichtig für die Interpretation, da sie Grundlagen und Grundbegriffe <lb n="pse_011.025"/>
zum Verständnis der Dichtung gibt. Poetik und <lb n="pse_011.026"/>
Interpretation begegnen sich auf halbem Weg. Die Interpretation <lb n="pse_011.027"/>
führt zu Einsichten in Dichtung überhaupt, setzt <lb n="pse_011.028"/>
aber ein allgemeines Wissen von Dichtung voraus; die <lb n="pse_011.029"/>
Poetik dagegen fußt, um zu ihren allgemeinen Einsichten zu <lb n="pse_011.030"/>
kommen, auf der genauen Betrachtung von Einzeldichtungen.</p>
        <p><lb n="pse_011.031"/>
Neben dem Erkenntniswert der rein wissenschaftlichen Erforschung <lb n="pse_011.032"/>
der Dichtung überhaupt kommt der Poetik aber <lb n="pse_011.033"/>
auch ein Dienstwert zu: sie vermag den, der tiefer in Dichtungen <lb n="pse_011.034"/>
eindringen will, der die Erlebnismöglichkeiten, die <lb n="pse_011.035"/>
sie bietet, reicher ausschöpfen will, in diesem Bestreben mannigfach <lb n="pse_011.036"/>
zu fördern. Denn sie weist ihn auf manches hin, <lb n="pse_011.037"/>
was er sonst übersehen würde und was doch sein Erleben <lb n="pse_011.038"/>
intensivieren kann.</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0027] pse_011.001 also auch die dieses bedeutenden Phänomens, hat pse_011.002 einen Wert. Allein schon so erscheint eine beinahe systematische pse_011.003 Poetik allen Einzelinterpretationen gegenüber als Ordnung pse_011.004 aller Einsichten in Dichtung gerechtfertigt. Freilich pse_011.005 müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß auch sogenannte pse_011.006 Allgemeineinsichten, die das Dauernde, Überalltägliche der pse_011.007 Dichtung ein für allemal feststellen wollen, immer geschichtlich pse_011.008 bedingt sind. Wir erleben und sehen heute Dichtung pse_011.009 anders, als das schon das 18. Jahrhundert vielfach tat, gewiß pse_011.010 aber ganz anders als vergangenere Zeiten. Dichtung ist für pse_011.011 uns vielfach eben eine andere Gegebenheit als früheren Zeiten, pse_011.012 daher werden auch unsere »allgemeinen« Einsichten anders pse_011.013 sein. Das ist das Schicksal jeder Forschung. Die endgültige pse_011.014 Wahrheit läge eben erst dem Geiste offen, der gleichsam alle pse_011.015 Möglichkeiten, Dichtung zu erleben und zu erfassen, umspannen pse_011.016 könnte. Jeder Forscher und jede Forschergeneration pse_011.017 bewegt sich gleichsam jeweils auf einem anderen Radius von pse_011.018 der Peripherie ins Zentrum. Trotzdem kann die Poetik pse_011.019 Grundlagen für jede weitere wissenschaftliche Tätigkeit auf pse_011.020 dem Gebiete der Literatur geben. Auch für die Literaturgeschichte pse_011.021 gilt das. Denn die geschichtliche Bedingtheit aller pse_011.022 Dichtung gehört ja auch zu ihrem Wesen, ist also auch in der pse_011.023 Poetik zu berücksichtigen. Vor allem aber ist die Poetik pse_011.024 wichtig für die Interpretation, da sie Grundlagen und Grundbegriffe pse_011.025 zum Verständnis der Dichtung gibt. Poetik und pse_011.026 Interpretation begegnen sich auf halbem Weg. Die Interpretation pse_011.027 führt zu Einsichten in Dichtung überhaupt, setzt pse_011.028 aber ein allgemeines Wissen von Dichtung voraus; die pse_011.029 Poetik dagegen fußt, um zu ihren allgemeinen Einsichten zu pse_011.030 kommen, auf der genauen Betrachtung von Einzeldichtungen. pse_011.031 Neben dem Erkenntniswert der rein wissenschaftlichen Erforschung pse_011.032 der Dichtung überhaupt kommt der Poetik aber pse_011.033 auch ein Dienstwert zu: sie vermag den, der tiefer in Dichtungen pse_011.034 eindringen will, der die Erlebnismöglichkeiten, die pse_011.035 sie bietet, reicher ausschöpfen will, in diesem Bestreben mannigfach pse_011.036 zu fördern. Denn sie weist ihn auf manches hin, pse_011.037 was er sonst übersehen würde und was doch sein Erleben pse_011.038 intensivieren kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/27
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/27>, abgerufen am 24.11.2024.