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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Differenzierung der von uns erfaßten Welt. Dabei hat die pse_254.002
Dichtung an sich gezögert, alle diese Differenzierungen mitzumachen. pse_254.003
Aber es ist doch deutlich ein Weg zu erkennen pse_254.004
von der Aufklärung über den Sturm und Drang in den sogenannten pse_254.005
Realismus des 19. Jahrhunderts. Eine besonders pse_254.006
starke Ausdifferenzierungsstufe hat dann die kurze Epoche pse_254.007
des Naturalismus erreicht. Auf der einen Seite steht der reine pse_254.008
Naturalismus. Mit der weitgehenden Ausdifferenzierung des pse_254.009
Weltbildes in bezug auf das Soziale, die sich in einer starken pse_254.010
Vermehrung des Wortschatzes zeigt, verbindet sich ein Einbau pse_254.011
sachdarstellerischer Haltung, durch die ein unmittelbareres pse_254.012
Gestalten der außersprachlichen Wirklichkeit erreicht werden pse_254.013
soll. Demgegenüber betont der beinahe gleichzeitige Symbolismus pse_254.014
die reine Sprachkunst, also möglichste Entfernung pse_254.015
vom Konventionellen, vom Rationalen und vom Sachdarstellerischen. pse_254.016
Beide Richtungen zusammen schaffen also neue pse_254.017
Möglichkeiten sprachkünstlerischer Darstellung. Um das pse_254.018
etwa am erweiterten Wortschatz zu zeigen, braucht man nur pse_254.019
an die Lyrik G. Benns zu denken. Er zieht bewußt Lebensbereiche pse_254.020
in seine sprachliche Welterfassung herein, die bisher pse_254.021
vermieden wurden: das Ekelhafte und die wissenschaftliche pse_254.022
Terminologie. Man denke an das Gedicht "Mann und Frau pse_254.023
gehn durch die Krebsbaracke" und an seine statischen Gedichte. pse_254.024
Er hat recht, wenn er das tut. Denn tatsächlich können pse_254.025
die Bereiche, die mit diesen Worten umfaßt werden, auch pse_254.026
vom Innersten des Menschen her ergriffen werden, sie sind pse_254.027
daher sprachkünstlerisch prägbar. Hier hat auch der Impressionismus pse_254.028
vorgearbeitet; mit der Fülle seiner Eindrucksgestaltungen, pse_254.029
besonders im Reichtum und den verschiedenen Zusammensetzungen pse_254.030
seiner Eindrucksworte, hat er gerade die pse_254.031
Zwischenwelt zwischen Objekt und Subjekt, den Bezug des pse_254.032
Inneren zum Äußeren stark in die sprachliche Gestaltung pse_254.033
einbezogen.

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Die geschichtliche Bedingtheit der Sprachkunst führt zu pse_254.035
Wertungsfragen. Und zwar sondern sich hier deutlich rein pse_254.036
künstlerische und geschichtliche Wertung. Diese beachtet pse_254.037
vor allem die geschichtliche Gebundenheit der sprachkünstlerischen pse_254.038
Form. Manche Dichtungen sind ganz in den Epochenstil

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Differenzierung der von uns erfaßten Welt. Dabei hat die pse_254.002
Dichtung an sich gezögert, alle diese Differenzierungen mitzumachen. pse_254.003
Aber es ist doch deutlich ein Weg zu erkennen pse_254.004
von der Aufklärung über den Sturm und Drang in den sogenannten pse_254.005
Realismus des 19. Jahrhunderts. Eine besonders pse_254.006
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Naturalismus. Mit der weitgehenden Ausdifferenzierung des pse_254.009
Weltbildes in bezug auf das Soziale, die sich in einer starken pse_254.010
Vermehrung des Wortschatzes zeigt, verbindet sich ein Einbau pse_254.011
sachdarstellerischer Haltung, durch die ein unmittelbareres pse_254.012
Gestalten der außersprachlichen Wirklichkeit erreicht werden pse_254.013
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die reine Sprachkunst, also möglichste Entfernung pse_254.015
vom Konventionellen, vom Rationalen und vom Sachdarstellerischen. pse_254.016
Beide Richtungen zusammen schaffen also neue pse_254.017
Möglichkeiten sprachkünstlerischer Darstellung. Um das pse_254.018
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Terminologie. Man denke an das Gedicht »Mann und Frau pse_254.023
gehn durch die Krebsbaracke« und an seine statischen Gedichte. pse_254.024
Er hat recht, wenn er das tut. Denn tatsächlich können pse_254.025
die Bereiche, die mit diesen Worten umfaßt werden, auch pse_254.026
vom Innersten des Menschen her ergriffen werden, sie sind pse_254.027
daher sprachkünstlerisch prägbar. Hier hat auch der Impressionismus pse_254.028
vorgearbeitet; mit der Fülle seiner Eindrucksgestaltungen, pse_254.029
besonders im Reichtum und den verschiedenen Zusammensetzungen pse_254.030
seiner Eindrucksworte, hat er gerade die pse_254.031
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Inneren zum Äußeren stark in die sprachliche Gestaltung pse_254.033
einbezogen.

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Die geschichtliche Bedingtheit der Sprachkunst führt zu pse_254.035
Wertungsfragen. Und zwar sondern sich hier deutlich rein pse_254.036
künstlerische und geschichtliche Wertung. Diese beachtet pse_254.037
vor allem die geschichtliche Gebundenheit der sprachkünstlerischen pse_254.038
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[254/0270] pse_254.001 Differenzierung der von uns erfaßten Welt. Dabei hat die pse_254.002 Dichtung an sich gezögert, alle diese Differenzierungen mitzumachen. pse_254.003 Aber es ist doch deutlich ein Weg zu erkennen pse_254.004 von der Aufklärung über den Sturm und Drang in den sogenannten pse_254.005 Realismus des 19. Jahrhunderts. Eine besonders pse_254.006 starke Ausdifferenzierungsstufe hat dann die kurze Epoche pse_254.007 des Naturalismus erreicht. Auf der einen Seite steht der reine pse_254.008 Naturalismus. Mit der weitgehenden Ausdifferenzierung des pse_254.009 Weltbildes in bezug auf das Soziale, die sich in einer starken pse_254.010 Vermehrung des Wortschatzes zeigt, verbindet sich ein Einbau pse_254.011 sachdarstellerischer Haltung, durch die ein unmittelbareres pse_254.012 Gestalten der außersprachlichen Wirklichkeit erreicht werden pse_254.013 soll. Demgegenüber betont der beinahe gleichzeitige Symbolismus pse_254.014 die reine Sprachkunst, also möglichste Entfernung pse_254.015 vom Konventionellen, vom Rationalen und vom Sachdarstellerischen. pse_254.016 Beide Richtungen zusammen schaffen also neue pse_254.017 Möglichkeiten sprachkünstlerischer Darstellung. Um das pse_254.018 etwa am erweiterten Wortschatz zu zeigen, braucht man nur pse_254.019 an die Lyrik G. Benns zu denken. Er zieht bewußt Lebensbereiche pse_254.020 in seine sprachliche Welterfassung herein, die bisher pse_254.021 vermieden wurden: das Ekelhafte und die wissenschaftliche pse_254.022 Terminologie. Man denke an das Gedicht »Mann und Frau pse_254.023 gehn durch die Krebsbaracke« und an seine statischen Gedichte. pse_254.024 Er hat recht, wenn er das tut. Denn tatsächlich können pse_254.025 die Bereiche, die mit diesen Worten umfaßt werden, auch pse_254.026 vom Innersten des Menschen her ergriffen werden, sie sind pse_254.027 daher sprachkünstlerisch prägbar. Hier hat auch der Impressionismus pse_254.028 vorgearbeitet; mit der Fülle seiner Eindrucksgestaltungen, pse_254.029 besonders im Reichtum und den verschiedenen Zusammensetzungen pse_254.030 seiner Eindrucksworte, hat er gerade die pse_254.031 Zwischenwelt zwischen Objekt und Subjekt, den Bezug des pse_254.032 Inneren zum Äußeren stark in die sprachliche Gestaltung pse_254.033 einbezogen. pse_254.034 Die geschichtliche Bedingtheit der Sprachkunst führt zu pse_254.035 Wertungsfragen. Und zwar sondern sich hier deutlich rein pse_254.036 künstlerische und geschichtliche Wertung. Diese beachtet pse_254.037 vor allem die geschichtliche Gebundenheit der sprachkünstlerischen pse_254.038 Form. Manche Dichtungen sind ganz in den Epochenstil

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/270>, abgerufen am 10.05.2024.