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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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verdeckt, zurückgedrängt und mit anderen verflochten. pse_242.002
Dann solche Gemeinschaften, die durch die Entfaltung und pse_242.003
Formung der Menschen an gleichen Kulturgütern gebildet pse_242.004
werden. Dazu gehören auch die Berufsgruppen.

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Aus dem Zusammenhang von Stil und Lebensgemeinschaften pse_242.006
seien nur drei Tatbestände herausgegriffen. 1. Die Bedeutung pse_242.007
der Hochsprache in der Dichtung eines Volkes. Die Hochsprache pse_242.008
entrückt aus dem Alltag in die Gemeinsamkeit der pse_242.009
Sprachgemeinschaft. Sie wirkt vor allem in der Predigt, in den pse_242.010
Reden, auf der Bühne, am entscheidendsten in der Dichtung. pse_242.011
Sie verbindet in ihrer Sprachkunst, im Gehalt, den diese formt pse_242.012
und prägt, und im gesamten Lautungsbestand alle Angehörigen pse_242.013
dieses Volks und hebt sie in diesen Augenblicken auf eine pse_242.014
höhere, allen gleiche geistige Ebene. Freilich sind die höchsten pse_242.015
Dichtungen nicht allen gleich zugänglich. Aber denken wir pse_242.016
an völkische Lieder: Befreiungs-, Kriegs- und Marschlieder: pse_242.017
etwa an die zündende Kraft der Marseillaise. Es handelt sich pse_242.018
einfach um die Tatsache der umfassenden Wirkung der Hochsprache; pse_242.019
was dabei herauskommt, gehört auf ein anderes Blatt.

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Eigenartig sind dann Fremdsprachenteile in einer Dichtung. pse_242.021
Da sind verschiedene Stilwerte möglich. In den französischen pse_242.022
Stellen, die Riccaut in Lessings Lustspiel spricht, wird deutlich pse_242.023
das Fremde erlebt, der Einbruch einer anderen Welt; sie wird pse_242.024
an dieser Stelle entwertet; denn hier wird Sprechen Radebrechen pse_242.025
zum Zweck bloßer Verständigung. Ganz anders pse_242.026
wirken die Strophen aus dem "Dies irae" in der Domszene in pse_242.027
Faust I. Auch hier ertönt etwas Fremdes, aber es wird als pse_242.028
etwas Höheres, Geheimnisvolles erlebt. Der Unterschied pse_242.029
beider Wirkungen ist bedingt durch die sprachliche Umwelt pse_242.030
und Einführung dieser Stellen. Das Bedeutungsmäßige ist ja pse_242.031
immer nur dem offen, der die betreffende Sprache kennt, pse_242.032
aber die fremdsprachlichen Teile wirken auf alle Fälle stimmungsmäßig.

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Die Stilwerte der Mundart in der Dichtung erfließen aus pse_242.035
der Tatsache, daß in der Mundart die gesamte Haltung einer pse_242.036
engeren Sprachgemeinschaft, eines Stammes, geprägt ist. Die pse_242.037
Eigenarten einer Mundart sind mannigfaltig: der Wortschatz, pse_242.038
besonders auch in seinen Gefühlswerten, die Formen, Fügungen,

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verdeckt, zurückgedrängt und mit anderen verflochten. pse_242.002
Dann solche Gemeinschaften, die durch die Entfaltung und pse_242.003
Formung der Menschen an gleichen Kulturgütern gebildet pse_242.004
werden. Dazu gehören auch die Berufsgruppen.

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was dabei herauskommt, gehört auf ein anderes Blatt.

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Da sind verschiedene Stilwerte möglich. In den französischen pse_242.022
Stellen, die Riccaut in Lessings Lustspiel spricht, wird deutlich pse_242.023
das Fremde erlebt, der Einbruch einer anderen Welt; sie wird pse_242.024
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zum Zweck bloßer Verständigung. Ganz anders pse_242.026
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Faust I. Auch hier ertönt etwas Fremdes, aber es wird als pse_242.028
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beider Wirkungen ist bedingt durch die sprachliche Umwelt pse_242.030
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immer nur dem offen, der die betreffende Sprache kennt, pse_242.032
aber die fremdsprachlichen Teile wirken auf alle Fälle stimmungsmäßig.

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Die Stilwerte der Mundart in der Dichtung erfließen aus pse_242.035
der Tatsache, daß in der Mundart die gesamte Haltung einer pse_242.036
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/258>, abgerufen am 10.05.2024.