Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_240.001
übertrieben und veräußerlicht, besonders durch die lautlichen pse_240.002
Bezüge zwischen beiden Worten. Diese übertriebene Kindlichkeit pse_240.003
wird nun steigernd in andere Stimmungsbereiche pse_240.004
hinübergeschoben: die Wortgehalte und deren Häufung, der pse_240.005
schmelzende Klang der Worte dazu, das alles überzuckert pse_240.006
dieses Süße in lächerlicher Weise. Dornröschen selbst kommt pse_240.007
hier in eine Beleuchtung, wo das ganze Kindliche völlig verdeckt pse_240.008
wird: rein nur durch die Sprache und das Versagen pse_240.009
ihres Einsatzes.

pse_240.010
Daß die geschlossene sprachliche Gesamtgestalt einer Dichtung pse_240.011
immer im Auge behalten werden muß, zeigt noch eine pse_240.012
letzte Beobachtung. Es ist durchaus möglich, daß zu gewissen pse_240.013
Zeiten Sprachwerke, die keine Dichtungen sind, also kritische, pse_240.014
wissenschaftliche, politische Schriften, oft sprachmächtiger, pse_240.015
also sprachkünstlerisch bedeutsamer sind als gleichzeitige pse_240.016
Dichtungen. Aber gerade da zeigt sich die Fruchtbarkeit pse_240.017
unserer Scheidung von Sachdarstellung und Sprachkunstwerk, pse_240.018
insbesondere Dichtung. Dort, in den kritischen, wissenschaftlichen, pse_240.019
politischen Schriften wird auf Tatsachen der außersprachlichen pse_240.020
Welt hingewiesen, die Sprache will vermitteln. pse_240.021
Setzt sie dabei sprachkünstlerische Kräfte ein, kann diese Vermittlung pse_240.022
noch wirkungsvoller werden, aber es kann auch das pse_240.023
andere geschehen: daß man über der in der Sprachkunst aufgebauten pse_240.024
geistigen Welt die andere, von der gesprochen werden pse_240.025
soll, vergißt. In der Dichtung aber handelt es sich immer pse_240.026
darum, daß aus Sprachkräften eine neue geistige Welt aufgebaut pse_240.027
wird, die zwar natürlich Beziehungen zur außersprachlichen pse_240.028
hat, aber in sich ruht und in diesem Insichruhen das pse_240.029
Tiefere aufleuchten läßt. Ob ihr das gelingt, ist wieder eine pse_240.030
Frage der Stilkunst. Immer liegt das Kriterium, ob etwas eine pse_240.031
Dichtung ist und welchen Rang sie hat, zuerst einmal in der pse_240.032
sprachlichen Gestaltung. Erst auf ihr als Grundlage bauen pse_240.033
weitere Züge auf.

pse_240.001
übertrieben und veräußerlicht, besonders durch die lautlichen pse_240.002
Bezüge zwischen beiden Worten. Diese übertriebene Kindlichkeit pse_240.003
wird nun steigernd in andere Stimmungsbereiche pse_240.004
hinübergeschoben: die Wortgehalte und deren Häufung, der pse_240.005
schmelzende Klang der Worte dazu, das alles überzuckert pse_240.006
dieses Süße in lächerlicher Weise. Dornröschen selbst kommt pse_240.007
hier in eine Beleuchtung, wo das ganze Kindliche völlig verdeckt pse_240.008
wird: rein nur durch die Sprache und das Versagen pse_240.009
ihres Einsatzes.

pse_240.010
Daß die geschlossene sprachliche Gesamtgestalt einer Dichtung pse_240.011
immer im Auge behalten werden muß, zeigt noch eine pse_240.012
letzte Beobachtung. Es ist durchaus möglich, daß zu gewissen pse_240.013
Zeiten Sprachwerke, die keine Dichtungen sind, also kritische, pse_240.014
wissenschaftliche, politische Schriften, oft sprachmächtiger, pse_240.015
also sprachkünstlerisch bedeutsamer sind als gleichzeitige pse_240.016
Dichtungen. Aber gerade da zeigt sich die Fruchtbarkeit pse_240.017
unserer Scheidung von Sachdarstellung und Sprachkunstwerk, pse_240.018
insbesondere Dichtung. Dort, in den kritischen, wissenschaftlichen, pse_240.019
politischen Schriften wird auf Tatsachen der außersprachlichen pse_240.020
Welt hingewiesen, die Sprache will vermitteln. pse_240.021
Setzt sie dabei sprachkünstlerische Kräfte ein, kann diese Vermittlung pse_240.022
noch wirkungsvoller werden, aber es kann auch das pse_240.023
andere geschehen: daß man über der in der Sprachkunst aufgebauten pse_240.024
geistigen Welt die andere, von der gesprochen werden pse_240.025
soll, vergißt. In der Dichtung aber handelt es sich immer pse_240.026
darum, daß aus Sprachkräften eine neue geistige Welt aufgebaut pse_240.027
wird, die zwar natürlich Beziehungen zur außersprachlichen pse_240.028
hat, aber in sich ruht und in diesem Insichruhen das pse_240.029
Tiefere aufleuchten läßt. Ob ihr das gelingt, ist wieder eine pse_240.030
Frage der Stilkunst. Immer liegt das Kriterium, ob etwas eine pse_240.031
Dichtung ist und welchen Rang sie hat, zuerst einmal in der pse_240.032
sprachlichen Gestaltung. Erst auf ihr als Grundlage bauen pse_240.033
weitere Züge auf.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0256" n="240"/><lb n="pse_240.001"/>
übertrieben und veräußerlicht, besonders durch die lautlichen <lb n="pse_240.002"/>
Bezüge zwischen beiden Worten. Diese übertriebene Kindlichkeit <lb n="pse_240.003"/>
wird nun steigernd in andere Stimmungsbereiche <lb n="pse_240.004"/>
hinübergeschoben: die Wortgehalte und deren Häufung, der <lb n="pse_240.005"/>
schmelzende Klang der Worte dazu, das alles überzuckert <lb n="pse_240.006"/>
dieses Süße in lächerlicher Weise. Dornröschen selbst kommt <lb n="pse_240.007"/>
hier in eine Beleuchtung, wo das ganze Kindliche völlig verdeckt <lb n="pse_240.008"/>
wird: rein nur durch die Sprache und das Versagen <lb n="pse_240.009"/>
ihres Einsatzes.</p>
            <p><lb n="pse_240.010"/>
Daß die geschlossene sprachliche Gesamtgestalt einer Dichtung <lb n="pse_240.011"/>
immer im Auge behalten werden muß, zeigt noch eine <lb n="pse_240.012"/>
letzte Beobachtung. Es ist durchaus möglich, daß zu gewissen <lb n="pse_240.013"/>
Zeiten Sprachwerke, die keine Dichtungen sind, also kritische, <lb n="pse_240.014"/>
wissenschaftliche, politische Schriften, oft sprachmächtiger, <lb n="pse_240.015"/>
also sprachkünstlerisch bedeutsamer sind als gleichzeitige <lb n="pse_240.016"/>
Dichtungen. Aber gerade da zeigt sich die Fruchtbarkeit <lb n="pse_240.017"/>
unserer Scheidung von Sachdarstellung und Sprachkunstwerk, <lb n="pse_240.018"/>
insbesondere Dichtung. Dort, in den kritischen, wissenschaftlichen, <lb n="pse_240.019"/>
politischen Schriften wird auf Tatsachen der außersprachlichen <lb n="pse_240.020"/>
Welt hingewiesen, die Sprache will vermitteln. <lb n="pse_240.021"/>
Setzt sie dabei sprachkünstlerische Kräfte ein, kann diese Vermittlung <lb n="pse_240.022"/>
noch wirkungsvoller werden, aber es kann auch das <lb n="pse_240.023"/>
andere geschehen: daß man über der in der Sprachkunst aufgebauten <lb n="pse_240.024"/>
geistigen Welt die andere, von der gesprochen werden <lb n="pse_240.025"/>
soll, vergißt. In der Dichtung aber handelt es sich immer <lb n="pse_240.026"/>
darum, daß aus Sprachkräften eine neue geistige Welt aufgebaut <lb n="pse_240.027"/>
wird, die zwar natürlich Beziehungen zur außersprachlichen <lb n="pse_240.028"/>
hat, aber in sich ruht und in diesem Insichruhen das <lb n="pse_240.029"/>
Tiefere aufleuchten läßt. Ob ihr das gelingt, ist wieder eine <lb n="pse_240.030"/>
Frage der Stilkunst. Immer liegt das Kriterium, ob etwas eine <lb n="pse_240.031"/>
Dichtung ist und welchen Rang sie hat, zuerst einmal in der <lb n="pse_240.032"/>
sprachlichen Gestaltung. Erst auf ihr als Grundlage bauen <lb n="pse_240.033"/>
weitere Züge auf.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[240/0256] pse_240.001 übertrieben und veräußerlicht, besonders durch die lautlichen pse_240.002 Bezüge zwischen beiden Worten. Diese übertriebene Kindlichkeit pse_240.003 wird nun steigernd in andere Stimmungsbereiche pse_240.004 hinübergeschoben: die Wortgehalte und deren Häufung, der pse_240.005 schmelzende Klang der Worte dazu, das alles überzuckert pse_240.006 dieses Süße in lächerlicher Weise. Dornröschen selbst kommt pse_240.007 hier in eine Beleuchtung, wo das ganze Kindliche völlig verdeckt pse_240.008 wird: rein nur durch die Sprache und das Versagen pse_240.009 ihres Einsatzes. pse_240.010 Daß die geschlossene sprachliche Gesamtgestalt einer Dichtung pse_240.011 immer im Auge behalten werden muß, zeigt noch eine pse_240.012 letzte Beobachtung. Es ist durchaus möglich, daß zu gewissen pse_240.013 Zeiten Sprachwerke, die keine Dichtungen sind, also kritische, pse_240.014 wissenschaftliche, politische Schriften, oft sprachmächtiger, pse_240.015 also sprachkünstlerisch bedeutsamer sind als gleichzeitige pse_240.016 Dichtungen. Aber gerade da zeigt sich die Fruchtbarkeit pse_240.017 unserer Scheidung von Sachdarstellung und Sprachkunstwerk, pse_240.018 insbesondere Dichtung. Dort, in den kritischen, wissenschaftlichen, pse_240.019 politischen Schriften wird auf Tatsachen der außersprachlichen pse_240.020 Welt hingewiesen, die Sprache will vermitteln. pse_240.021 Setzt sie dabei sprachkünstlerische Kräfte ein, kann diese Vermittlung pse_240.022 noch wirkungsvoller werden, aber es kann auch das pse_240.023 andere geschehen: daß man über der in der Sprachkunst aufgebauten pse_240.024 geistigen Welt die andere, von der gesprochen werden pse_240.025 soll, vergißt. In der Dichtung aber handelt es sich immer pse_240.026 darum, daß aus Sprachkräften eine neue geistige Welt aufgebaut pse_240.027 wird, die zwar natürlich Beziehungen zur außersprachlichen pse_240.028 hat, aber in sich ruht und in diesem Insichruhen das pse_240.029 Tiefere aufleuchten läßt. Ob ihr das gelingt, ist wieder eine pse_240.030 Frage der Stilkunst. Immer liegt das Kriterium, ob etwas eine pse_240.031 Dichtung ist und welchen Rang sie hat, zuerst einmal in der pse_240.032 sprachlichen Gestaltung. Erst auf ihr als Grundlage bauen pse_240.033 weitere Züge auf.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/256
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/256>, abgerufen am 24.11.2024.