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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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das an folgender Beispielreihe ersehen. "Reiße das Auge, das pse_179.002
dich ärgert, aus." Gewiß wirkt durch den Gehalt des Wortes pse_179.003
"ärgern" der Gliedsatz schon stärker vorganghaft als es ein pse_179.004
bloßes Eindruckswort tun könnte (etwa: "ärgerlich"). Aber pse_179.005
impulsiver wirkt schon: "Ärgert dich dein Auge, reiß es aus", pse_179.006
besonders weil man hier auch noch die drängende Frage mithören pse_179.007
könnte. Die wirksamste Form aber erhält das Ganze, pse_179.008
wenn nun der Gliedsatz eine deutliche, scharf einsetzende und pse_179.009
abschließende und damit zugleich unmittelbar weiterführende pse_179.010
Form erhält: "Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus."

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Sprache als Lautung

pse_179.012
Unter Lautung verstehen wir alles, was die Sprache als pse_179.013
Hörbares bietet. Mit dem Wort wollen wir dieses sprachlich pse_179.014
Hörbare von den anderen Schallformen abheben. Das pse_179.015
Charakteristische an den sprachlichen Schallformen, also an pse_179.016
der Lautung, ist das Abgrenzende, die deutliche Gesondertheit pse_179.017
und Faßbarkeit der einzelnen Gebilde, das, was man die pse_179.018
Artikulation nennt. Das sind zunächst die Laute. Sie sind nichts pse_179.019
nur Physisches, sondern bereits geistige Leistung, nämlich auswählendes pse_179.020
Herausarbeiten besonderer Stellen im Lautstrom, pse_179.021
also Bestimmungen an den Silben. So entsteht eine Spannung pse_179.022
zwischen Naturhaftem und Geistigem in den Lauten. Silben pse_179.023
sind die kleinsten Glieder des hörbaren Aufbaus der Sprache. pse_179.024
Gewisse Teile an der Wortgestalt sind sinnbedeutsam, andere pse_179.025
nicht; es ist gleichgültig, mit welchem r-Laut im Deutschen pse_179.026
ein Wort gesprochen wird, aber ob ich b oder p spreche, pse_179.027
macht einen Bedeutungsunterschied aus (Bein -- Pein usw.). pse_179.028
Man denke auch an den Unterschied von vous aurez und vous pse_179.029
saurez
im Französischen, der allein in der Aussprache von s pse_179.030
gestaltet ist. Solche sinnbedeutsame Teile nennt man Phoneme. pse_179.031
Aber neben den Lauten, vor allem als Phonemen, gibt es pse_179.032
noch anderes, was zur Lautung gehört, nämlich alle die pse_179.033
Kräfte, die sich erst im zeitlichen Ablauf des Redens zeigen: pse_179.034
Rhythmus, Sprechart, Reime usw. Diese Aufzählung ist unsystematisch. pse_179.035
Die Einheit aller dieser Kräfte der Lautung in pse_179.036
einem Sprachwerk nennen wir dessen Lautungsgestalt.

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das an folgender Beispielreihe ersehen. »Reiße das Auge, das pse_179.002
dich ärgert, aus.« Gewiß wirkt durch den Gehalt des Wortes pse_179.003
»ärgern« der Gliedsatz schon stärker vorganghaft als es ein pse_179.004
bloßes Eindruckswort tun könnte (etwa: »ärgerlich«). Aber pse_179.005
impulsiver wirkt schon: »Ärgert dich dein Auge, reiß es aus«, pse_179.006
besonders weil man hier auch noch die drängende Frage mithören pse_179.007
könnte. Die wirksamste Form aber erhält das Ganze, pse_179.008
wenn nun der Gliedsatz eine deutliche, scharf einsetzende und pse_179.009
abschließende und damit zugleich unmittelbar weiterführende pse_179.010
Form erhält: »Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus.«

pse_179.011
Sprache als Lautung

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Unter Lautung verstehen wir alles, was die Sprache als pse_179.013
Hörbares bietet. Mit dem Wort wollen wir dieses sprachlich pse_179.014
Hörbare von den anderen Schallformen abheben. Das pse_179.015
Charakteristische an den sprachlichen Schallformen, also an pse_179.016
der Lautung, ist das Abgrenzende, die deutliche Gesondertheit pse_179.017
und Faßbarkeit der einzelnen Gebilde, das, was man die pse_179.018
Artikulation nennt. Das sind zunächst die Laute. Sie sind nichts pse_179.019
nur Physisches, sondern bereits geistige Leistung, nämlich auswählendes pse_179.020
Herausarbeiten besonderer Stellen im Lautstrom, pse_179.021
also Bestimmungen an den Silben. So entsteht eine Spannung pse_179.022
zwischen Naturhaftem und Geistigem in den Lauten. Silben pse_179.023
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Gewisse Teile an der Wortgestalt sind sinnbedeutsam, andere pse_179.025
nicht; es ist gleichgültig, mit welchem r-Laut im Deutschen pse_179.026
ein Wort gesprochen wird, aber ob ich b oder p spreche, pse_179.027
macht einen Bedeutungsunterschied aus (Bein — Pein usw.). pse_179.028
Man denke auch an den Unterschied von vous aurez und vous pse_179.029
saurez
im Französischen, der allein in der Aussprache von s pse_179.030
gestaltet ist. Solche sinnbedeutsame Teile nennt man Phoneme. pse_179.031
Aber neben den Lauten, vor allem als Phonemen, gibt es pse_179.032
noch anderes, was zur Lautung gehört, nämlich alle die pse_179.033
Kräfte, die sich erst im zeitlichen Ablauf des Redens zeigen: pse_179.034
Rhythmus, Sprechart, Reime usw. Diese Aufzählung ist unsystematisch. pse_179.035
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/195>, abgerufen am 28.04.2024.