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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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wie er sie dieser Erfassungsart entsprechend im Kunstwerk pse_171.002
neu aufbaut. Die eine Art greift häufig, in kurzen Stößen zu, pse_171.003
es ist ein erregendes Aufbauen, in dem die menschliche Beteiligtheit pse_171.004
stark mitschwingt: unmittelbare Welterfassung pse_171.005
könnte man das nennen.

pse_171.006
Schon tönt, schon tönt es ihm in der Brust, es quillt, pse_171.007
Wie da er noch im Schoße der Felsen spielt, pse_171.008
Ihm auf, und nun gedenkt er seiner pse_171.009
   Kraft, der Gewaltige, nun, nun eilt er, pse_171.010
Der Zauderer, er spottet der Fesseln nun, pse_171.011
Und nimmt und bricht, und wirft die Zerbrochenen, pse_171.012
Im Zorne, spielend, da und dort zum pse_171.013
   Schallenden Ufer ... (Hölderlin, Der gefesselte Strom)
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Ganz anders, wenn die Gestaltung gleichsam aus einer festen pse_171.015
Geisteshaltung, aus einer Enthobenheit über der Wirklichkeitsnähe pse_171.016
erwächst, mit Umsicht und in weiten Formen, pse_171.017
denen alles einzelne eingefügt ist, die sprachliche Welt aufgebaut pse_171.018
wird. Hier offenbart sich das Menschliche weniger pse_171.019
in der erregten Teilhabe an jedem Einzelakt als in der gemüthaften pse_171.020
Beherrschtheit geistiger Haltung:

pse_171.021

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, pse_171.022
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, pse_171.023
Bist alsobald und fort und fort gediehen, pse_171.024
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. pse_171.025
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, pse_171.026
So sagten schon Sibyllen, so Propheten; pse_171.027
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt pse_171.028
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
pse_171.029
   (Goethe, 1. Orphisches Urwort)

pse_171.030
Der Satz liegt auf einer anderen Ebene als Wort und Wortfügung. pse_171.031
Wort -- Wortgruppe -- Satz wäre also eine falsche pse_171.032
Reihe, denn ein Satz kann aus einem Wort ebensogut bestehen pse_171.033
wie aus einer Wortgruppe. Er gehört zum Bereich pse_171.034
der Rede als eines sinnvollen Sprachgeschehens in bestimmten pse_171.035
Situationen, er ist das kleinste verhältnismäßig selbständige pse_171.036
Glied einer Rede. Er ist selbst ein Vorgang, ohne Rücksicht pse_171.037
darauf, ob in ihm ein Vorgang ausgedrückt wird. Das pse_171.038
Eigenartige liegt nun aber darin, daß der Satz doch wieder pse_171.039
ein Stück Sprachgestaltung ist. In ihm wird also der Redevorgang,

pse_171.001
wie er sie dieser Erfassungsart entsprechend im Kunstwerk pse_171.002
neu aufbaut. Die eine Art greift häufig, in kurzen Stößen zu, pse_171.003
es ist ein erregendes Aufbauen, in dem die menschliche Beteiligtheit pse_171.004
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könnte man das nennen.

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Schon tönt, schon tönt es ihm in der Brust, es quillt, pse_171.007
Wie da er noch im Schoße der Felsen spielt, pse_171.008
Ihm auf, und nun gedenkt er seiner pse_171.009
   Kraft, der Gewaltige, nun, nun eilt er, pse_171.010
Der Zauderer, er spottet der Fesseln nun, pse_171.011
Und nimmt und bricht, und wirft die Zerbrochenen, pse_171.012
Im Zorne, spielend, da und dort zum pse_171.013
   Schallenden Ufer ... (Hölderlin, Der gefesselte Strom)
pse_171.014

Ganz anders, wenn die Gestaltung gleichsam aus einer festen pse_171.015
Geisteshaltung, aus einer Enthobenheit über der Wirklichkeitsnähe pse_171.016
erwächst, mit Umsicht und in weiten Formen, pse_171.017
denen alles einzelne eingefügt ist, die sprachliche Welt aufgebaut pse_171.018
wird. Hier offenbart sich das Menschliche weniger pse_171.019
in der erregten Teilhabe an jedem Einzelakt als in der gemüthaften pse_171.020
Beherrschtheit geistiger Haltung:

pse_171.021

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, pse_171.022
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, pse_171.023
Bist alsobald und fort und fort gediehen, pse_171.024
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. pse_171.025
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, pse_171.026
So sagten schon Sibyllen, so Propheten; pse_171.027
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt pse_171.028
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
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   (Goethe, 1. Orphisches Urwort)

pse_171.030
Der Satz liegt auf einer anderen Ebene als Wort und Wortfügung. pse_171.031
Wort — Wortgruppe — Satz wäre also eine falsche pse_171.032
Reihe, denn ein Satz kann aus einem Wort ebensogut bestehen pse_171.033
wie aus einer Wortgruppe. Er gehört zum Bereich pse_171.034
der Rede als eines sinnvollen Sprachgeschehens in bestimmten pse_171.035
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Glied einer Rede. Er ist selbst ein Vorgang, ohne Rücksicht pse_171.037
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[171/0187] pse_171.001 wie er sie dieser Erfassungsart entsprechend im Kunstwerk pse_171.002 neu aufbaut. Die eine Art greift häufig, in kurzen Stößen zu, pse_171.003 es ist ein erregendes Aufbauen, in dem die menschliche Beteiligtheit pse_171.004 stark mitschwingt: unmittelbare Welterfassung pse_171.005 könnte man das nennen. pse_171.006 Schon tönt, schon tönt es ihm in der Brust, es quillt, pse_171.007 Wie da er noch im Schoße der Felsen spielt, pse_171.008 Ihm auf, und nun gedenkt er seiner pse_171.009 Kraft, der Gewaltige, nun, nun eilt er, pse_171.010 Der Zauderer, er spottet der Fesseln nun, pse_171.011 Und nimmt und bricht, und wirft die Zerbrochenen, pse_171.012 Im Zorne, spielend, da und dort zum pse_171.013 Schallenden Ufer ... (Hölderlin, Der gefesselte Strom) pse_171.014 Ganz anders, wenn die Gestaltung gleichsam aus einer festen pse_171.015 Geisteshaltung, aus einer Enthobenheit über der Wirklichkeitsnähe pse_171.016 erwächst, mit Umsicht und in weiten Formen, pse_171.017 denen alles einzelne eingefügt ist, die sprachliche Welt aufgebaut pse_171.018 wird. Hier offenbart sich das Menschliche weniger pse_171.019 in der erregten Teilhabe an jedem Einzelakt als in der gemüthaften pse_171.020 Beherrschtheit geistiger Haltung: pse_171.021 Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, pse_171.022 Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, pse_171.023 Bist alsobald und fort und fort gediehen, pse_171.024 Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. pse_171.025 So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, pse_171.026 So sagten schon Sibyllen, so Propheten; pse_171.027 Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt pse_171.028 Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. pse_171.029 (Goethe, 1. Orphisches Urwort) pse_171.030 Der Satz liegt auf einer anderen Ebene als Wort und Wortfügung. pse_171.031 Wort — Wortgruppe — Satz wäre also eine falsche pse_171.032 Reihe, denn ein Satz kann aus einem Wort ebensogut bestehen pse_171.033 wie aus einer Wortgruppe. Er gehört zum Bereich pse_171.034 der Rede als eines sinnvollen Sprachgeschehens in bestimmten pse_171.035 Situationen, er ist das kleinste verhältnismäßig selbständige pse_171.036 Glied einer Rede. Er ist selbst ein Vorgang, ohne Rücksicht pse_171.037 darauf, ob in ihm ein Vorgang ausgedrückt wird. Das pse_171.038 Eigenartige liegt nun aber darin, daß der Satz doch wieder pse_171.039 ein Stück Sprachgestaltung ist. In ihm wird also der Redevorgang,

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/187>, abgerufen am 28.04.2024.