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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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In diesen Versen spielt nun künstlerisch auch die Reihung, pse_170.002
also die sogenannte Wortstellung eine Rolle. Eine Fülle von pse_170.003
Fragen tut sich hier auf: die Reihung der Glieder im Satz, pse_170.004
die Reihung der Unterglieder, die Reihung der Worte in den pse_170.005
Gliedern: alles kann stilistisch bedeutsam werden. Wir wollen pse_170.006
die Stilwerte kurz von zwei Seiten anleuchten. 1. Im Lauf pse_170.007
der Zeit bildet sich in einer Sprache eine bestimmte Ordnungsstruktur pse_170.008
der Reihung aus. Auch diese normale Ordnung kann pse_170.009
stilwertig sein.

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... Es tönten rings die Wälder und Hügel nach, pse_170.011
Doch fern ist er zu frommen Völkern, pse_170.012
Die ihn noch ehren, hinweggegangen.
pse_170.013
   (Hölderlin, Sonnenuntergang)

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Die Reihung ist hier vollkommen normal und trotzdem stilhaft. pse_170.015
Im ersten Vers gestaltet der Dichter zuerst eine allgemeine pse_170.016
Stimmung des Tönens und füllt dann das Bild durch pse_170.017
Einformung des Tönenden auf, in den zwei folgenden Versen pse_170.018
ist durch den ersten (fern) und letzten Stimmungsträger (hinweggegangen) pse_170.019
ein wirkungsvoller Rahmen geschaffen. Auch pse_170.020
die feste Stelle des finiten Vorgangsworts als zweites Glied im pse_170.021
deutschen Hauptsatz bietet stilhafte Möglichkeiten. "Ein pse_170.022
vollbesetztes, ganz neu in den Dienst gestelltes Großverkehrsflugzeug pse_170.023
stürzte ab"; wie anders wirkt der Satz, wenn das pse_170.024
Verbum lautet: "kam an". Oder: "Er zündete in aller Gemütsruhe" pse_170.025
und nun entsteht die Spannung auf das, was er angezündet pse_170.026
hat -- ein Pfeifchen oder ein Haus. Selbstverständlich stilwertig pse_170.027
aber wirken vor allem Durchbrechungen der normalen pse_170.028
Ordnung. Diese Durchbrechungen können einen anderen, pse_170.029
eindringlicheren Rhythmus erzeugen, sie können bestimmte pse_170.030
Worte besonders herausstellen und damit bestimmte pse_170.031
Gefühlsabläufe formen, sie können auch Geschlossenheit auflösen pse_170.032
und ein Aufeinanderfolgen von Bildern geben. Statt pse_170.033
"Es ist bitter, wenn man nach Jahren freudloser Arbeit betrogen pse_170.034
dasteht" schreibt H. Grimm einmal: "Es ist bitter, pse_170.035
wenn man betrogen dasteht nach Jahren freudloser Arbeit."

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2. Es lassen sich zwei Grenztypen aufstellen, wie der Dichter pse_170.037
sprachlich die ihm gegenübertretende Welt packt und dann,

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In diesen Versen spielt nun künstlerisch auch die Reihung, pse_170.002
also die sogenannte Wortstellung eine Rolle. Eine Fülle von pse_170.003
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die Stilwerte kurz von zwei Seiten anleuchten. 1. Im Lauf pse_170.007
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der Reihung aus. Auch diese normale Ordnung kann pse_170.009
stilwertig sein.

pse_170.010

... Es tönten rings die Wälder und Hügel nach, pse_170.011
Doch fern ist er zu frommen Völkern, pse_170.012
Die ihn noch ehren, hinweggegangen.
pse_170.013
   (Hölderlin, Sonnenuntergang)

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Die Reihung ist hier vollkommen normal und trotzdem stilhaft. pse_170.015
Im ersten Vers gestaltet der Dichter zuerst eine allgemeine pse_170.016
Stimmung des Tönens und füllt dann das Bild durch pse_170.017
Einformung des Tönenden auf, in den zwei folgenden Versen pse_170.018
ist durch den ersten (fern) und letzten Stimmungsträger (hinweggegangen) pse_170.019
ein wirkungsvoller Rahmen geschaffen. Auch pse_170.020
die feste Stelle des finiten Vorgangsworts als zweites Glied im pse_170.021
deutschen Hauptsatz bietet stilhafte Möglichkeiten. »Ein pse_170.022
vollbesetztes, ganz neu in den Dienst gestelltes Großverkehrsflugzeug pse_170.023
stürzte ab«; wie anders wirkt der Satz, wenn das pse_170.024
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eindringlicheren Rhythmus erzeugen, sie können bestimmte pse_170.030
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und ein Aufeinanderfolgen von Bildern geben. Statt pse_170.033
»Es ist bitter, wenn man nach Jahren freudloser Arbeit betrogen pse_170.034
dasteht« schreibt H. Grimm einmal: »Es ist bitter, pse_170.035
wenn man betrogen dasteht nach Jahren freudloser Arbeit.«

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[170/0186] pse_170.001 In diesen Versen spielt nun künstlerisch auch die Reihung, pse_170.002 also die sogenannte Wortstellung eine Rolle. Eine Fülle von pse_170.003 Fragen tut sich hier auf: die Reihung der Glieder im Satz, pse_170.004 die Reihung der Unterglieder, die Reihung der Worte in den pse_170.005 Gliedern: alles kann stilistisch bedeutsam werden. Wir wollen pse_170.006 die Stilwerte kurz von zwei Seiten anleuchten. 1. Im Lauf pse_170.007 der Zeit bildet sich in einer Sprache eine bestimmte Ordnungsstruktur pse_170.008 der Reihung aus. Auch diese normale Ordnung kann pse_170.009 stilwertig sein. pse_170.010 ... Es tönten rings die Wälder und Hügel nach, pse_170.011 Doch fern ist er zu frommen Völkern, pse_170.012 Die ihn noch ehren, hinweggegangen. pse_170.013 (Hölderlin, Sonnenuntergang) pse_170.014 Die Reihung ist hier vollkommen normal und trotzdem stilhaft. pse_170.015 Im ersten Vers gestaltet der Dichter zuerst eine allgemeine pse_170.016 Stimmung des Tönens und füllt dann das Bild durch pse_170.017 Einformung des Tönenden auf, in den zwei folgenden Versen pse_170.018 ist durch den ersten (fern) und letzten Stimmungsträger (hinweggegangen) pse_170.019 ein wirkungsvoller Rahmen geschaffen. Auch pse_170.020 die feste Stelle des finiten Vorgangsworts als zweites Glied im pse_170.021 deutschen Hauptsatz bietet stilhafte Möglichkeiten. »Ein pse_170.022 vollbesetztes, ganz neu in den Dienst gestelltes Großverkehrsflugzeug pse_170.023 stürzte ab«; wie anders wirkt der Satz, wenn das pse_170.024 Verbum lautet: »kam an«. Oder: »Er zündete in aller Gemütsruhe« pse_170.025 und nun entsteht die Spannung auf das, was er angezündet pse_170.026 hat — ein Pfeifchen oder ein Haus. Selbstverständlich stilwertig pse_170.027 aber wirken vor allem Durchbrechungen der normalen pse_170.028 Ordnung. Diese Durchbrechungen können einen anderen, pse_170.029 eindringlicheren Rhythmus erzeugen, sie können bestimmte pse_170.030 Worte besonders herausstellen und damit bestimmte pse_170.031 Gefühlsabläufe formen, sie können auch Geschlossenheit auflösen pse_170.032 und ein Aufeinanderfolgen von Bildern geben. Statt pse_170.033 »Es ist bitter, wenn man nach Jahren freudloser Arbeit betrogen pse_170.034 dasteht« schreibt H. Grimm einmal: »Es ist bitter, pse_170.035 wenn man betrogen dasteht nach Jahren freudloser Arbeit.« pse_170.036 2. Es lassen sich zwei Grenztypen aufstellen, wie der Dichter pse_170.037 sprachlich die ihm gegenübertretende Welt packt und dann,

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/186>, abgerufen am 28.04.2024.