Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_159.001
hat einen anderen Ton in "Bierkeller" als in "Bierrausch". pse_159.002
Besonders deutlich ist das in den beiden Hölderlinschen pse_159.003
Worten "heilignüchtern" und "heiligtrunken". Das erste pse_159.004
Wort wird hier nicht entwertet, sondern im Gegensatz zum pse_159.005
zweiten erst recht in seinem Gehalt herausgehoben; aber die pse_159.006
zweiten Worte verlieren durch "heilig" das Entwertete pse_159.007
("nüchtern") oder Einseitige ("trunken"), sie werden in eine pse_159.008
heilige Sphäre gehoben.

pse_159.009
Mit dem Wort umgrenze ich also ein Stück im Erfahrungsstrom. pse_159.010
Im Lauf der Sprachentwicklung gestalten sich sprachlich pse_159.011
auch ganz bestimmte Arten des Erfassens aus: ob ich pse_159.012
dieses Etwas als einen lebendigen Vorgang fasse, als ein Etwas, pse_159.013
das mir deutlich gegenübersteht, oder als etwas, das mit mir pse_159.014
in einer bestimmten gemüthaften Beziehung steht. So entstehen pse_159.015
die Wortarten. Daran erkennen wir, daß auch sie stilwertig pse_159.016
sein können. Natürlich hat im Lauf der Zeit die pse_159.017
Grammatik verschiedene Systeme von Wortarten aufgestellt, pse_159.018
sie sind in die Mühle der Sprachregelung gekommen und pse_159.019
haben dabei ihre inneren Werte eingebüßt. Aber auch hier pse_159.020
kann vor allem der Dichter diese bestimmten Erfassungsweisen pse_159.021
neu beleben. Ohne ausführliche theoretische Besinnung pse_159.022
beleuchten wir das zunächst an den drei Haupt-Wortarten. pse_159.023
Im Substantiv erreicht das Herausgrenzen aus dem Erfahrungsstrom pse_159.024
einen besonderen Grad. Das Ausgegrenzte pse_159.025
wird ganz abgehoben, als gleichsam Dauerndes für sich gestellt: pse_159.026
es steht uns gegenüber als etwas für sich Bestehendes. pse_159.027
Wir können es daher gut als Gegenstandswort bezeichnen. pse_159.028
Auch solche Gebilde wie Tau, Gewölke werden durch die pse_159.029
Prägung in ein Gegenstandswort zu geistig greifbaren Gebilden, pse_159.030
zu Dauerndem. Ebenso werden sogenannte Abstrakta pse_159.031
in der Prägung als Gegenstandsworte gebildehaft, geistige pse_159.032
Gegenstände. Die Welt gerinnt durch die Kraft sprachlicher pse_159.033
Vergegenständlichung gleichsam in lauter uns umstehende pse_159.034
Blöcke, sie wird greifbar, plastisch. Dabei kann unser Inneres pse_159.035
ganz verschieden auf eine solche Welt antworten: das wir pse_159.036
mit dem Erfahrungsstrom geistig so fertig geworden sind, pse_159.037
läßt das Gefühl der Beruhigung oder des Herrschens aufkommen. pse_159.038
Die Blöcke können aber auch bedrohlich werden,

pse_159.001
hat einen anderen Ton in »Bierkeller« als in »Bierrausch«. pse_159.002
Besonders deutlich ist das in den beiden Hölderlinschen pse_159.003
Worten »heilignüchtern« und »heiligtrunken«. Das erste pse_159.004
Wort wird hier nicht entwertet, sondern im Gegensatz zum pse_159.005
zweiten erst recht in seinem Gehalt herausgehoben; aber die pse_159.006
zweiten Worte verlieren durch »heilig« das Entwertete pse_159.007
(»nüchtern«) oder Einseitige (»trunken«), sie werden in eine pse_159.008
heilige Sphäre gehoben.

pse_159.009
Mit dem Wort umgrenze ich also ein Stück im Erfahrungsstrom. pse_159.010
Im Lauf der Sprachentwicklung gestalten sich sprachlich pse_159.011
auch ganz bestimmte Arten des Erfassens aus: ob ich pse_159.012
dieses Etwas als einen lebendigen Vorgang fasse, als ein Etwas, pse_159.013
das mir deutlich gegenübersteht, oder als etwas, das mit mir pse_159.014
in einer bestimmten gemüthaften Beziehung steht. So entstehen pse_159.015
die Wortarten. Daran erkennen wir, daß auch sie stilwertig pse_159.016
sein können. Natürlich hat im Lauf der Zeit die pse_159.017
Grammatik verschiedene Systeme von Wortarten aufgestellt, pse_159.018
sie sind in die Mühle der Sprachregelung gekommen und pse_159.019
haben dabei ihre inneren Werte eingebüßt. Aber auch hier pse_159.020
kann vor allem der Dichter diese bestimmten Erfassungsweisen pse_159.021
neu beleben. Ohne ausführliche theoretische Besinnung pse_159.022
beleuchten wir das zunächst an den drei Haupt-Wortarten. pse_159.023
Im Substantiv erreicht das Herausgrenzen aus dem Erfahrungsstrom pse_159.024
einen besonderen Grad. Das Ausgegrenzte pse_159.025
wird ganz abgehoben, als gleichsam Dauerndes für sich gestellt: pse_159.026
es steht uns gegenüber als etwas für sich Bestehendes. pse_159.027
Wir können es daher gut als Gegenstandswort bezeichnen. pse_159.028
Auch solche Gebilde wie Tau, Gewölke werden durch die pse_159.029
Prägung in ein Gegenstandswort zu geistig greifbaren Gebilden, pse_159.030
zu Dauerndem. Ebenso werden sogenannte Abstrakta pse_159.031
in der Prägung als Gegenstandsworte gebildehaft, geistige pse_159.032
Gegenstände. Die Welt gerinnt durch die Kraft sprachlicher pse_159.033
Vergegenständlichung gleichsam in lauter uns umstehende pse_159.034
Blöcke, sie wird greifbar, plastisch. Dabei kann unser Inneres pse_159.035
ganz verschieden auf eine solche Welt antworten: das wir pse_159.036
mit dem Erfahrungsstrom geistig so fertig geworden sind, pse_159.037
läßt das Gefühl der Beruhigung oder des Herrschens aufkommen. pse_159.038
Die Blöcke können aber auch bedrohlich werden,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0175" n="159"/><lb n="pse_159.001"/>
hat einen anderen Ton in »Bierkeller« als in »Bierrausch«. <lb n="pse_159.002"/>
Besonders deutlich ist das in den beiden Hölderlinschen <lb n="pse_159.003"/>
Worten »heilignüchtern« und »heiligtrunken«. Das erste <lb n="pse_159.004"/>
Wort wird hier nicht entwertet, sondern im Gegensatz zum <lb n="pse_159.005"/>
zweiten erst recht in seinem Gehalt herausgehoben; aber die <lb n="pse_159.006"/>
zweiten Worte verlieren durch »heilig« das Entwertete <lb n="pse_159.007"/>
(»nüchtern«) oder Einseitige (»trunken«), sie werden in eine <lb n="pse_159.008"/>
heilige Sphäre gehoben.</p>
              <p><lb n="pse_159.009"/>
Mit dem Wort umgrenze ich also ein Stück im Erfahrungsstrom. <lb n="pse_159.010"/>
Im Lauf der Sprachentwicklung gestalten sich sprachlich <lb n="pse_159.011"/>
auch ganz bestimmte Arten des Erfassens aus: ob ich <lb n="pse_159.012"/>
dieses Etwas als einen lebendigen Vorgang fasse, als ein Etwas, <lb n="pse_159.013"/>
das mir deutlich gegenübersteht, oder als etwas, das mit mir <lb n="pse_159.014"/>
in einer bestimmten gemüthaften Beziehung steht. So entstehen <lb n="pse_159.015"/>
die <hi rendition="#i">Wortarten.</hi> Daran erkennen wir, daß auch sie stilwertig <lb n="pse_159.016"/>
sein können. Natürlich hat im Lauf der Zeit die <lb n="pse_159.017"/>
Grammatik verschiedene Systeme von Wortarten aufgestellt, <lb n="pse_159.018"/>
sie sind in die Mühle der Sprachregelung gekommen und <lb n="pse_159.019"/>
haben dabei ihre inneren Werte eingebüßt. Aber auch hier <lb n="pse_159.020"/>
kann vor allem der Dichter diese bestimmten Erfassungsweisen <lb n="pse_159.021"/>
neu beleben. Ohne ausführliche theoretische Besinnung <lb n="pse_159.022"/>
beleuchten wir das zunächst an den drei Haupt-Wortarten. <lb n="pse_159.023"/>
Im Substantiv erreicht das Herausgrenzen aus dem Erfahrungsstrom <lb n="pse_159.024"/>
einen besonderen Grad. Das Ausgegrenzte <lb n="pse_159.025"/>
wird ganz abgehoben, als gleichsam Dauerndes für sich gestellt: <lb n="pse_159.026"/>
es steht uns gegenüber als etwas für sich Bestehendes. <lb n="pse_159.027"/>
Wir können es daher gut als Gegenstandswort bezeichnen. <lb n="pse_159.028"/>
Auch solche Gebilde wie Tau, Gewölke werden durch die <lb n="pse_159.029"/>
Prägung in ein Gegenstandswort zu geistig greifbaren Gebilden, <lb n="pse_159.030"/>
zu Dauerndem. Ebenso werden sogenannte Abstrakta <lb n="pse_159.031"/>
in der Prägung als Gegenstandsworte gebildehaft, geistige <lb n="pse_159.032"/>
Gegenstände. Die Welt gerinnt durch die Kraft sprachlicher <lb n="pse_159.033"/>
Vergegenständlichung gleichsam in lauter uns umstehende <lb n="pse_159.034"/>
Blöcke, sie wird greifbar, plastisch. Dabei kann unser Inneres <lb n="pse_159.035"/>
ganz verschieden auf eine solche Welt antworten: das wir <lb n="pse_159.036"/>
mit dem Erfahrungsstrom geistig so fertig geworden sind, <lb n="pse_159.037"/>
läßt das Gefühl der Beruhigung oder des Herrschens aufkommen. <lb n="pse_159.038"/>
Die Blöcke können aber auch bedrohlich werden,
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0175] pse_159.001 hat einen anderen Ton in »Bierkeller« als in »Bierrausch«. pse_159.002 Besonders deutlich ist das in den beiden Hölderlinschen pse_159.003 Worten »heilignüchtern« und »heiligtrunken«. Das erste pse_159.004 Wort wird hier nicht entwertet, sondern im Gegensatz zum pse_159.005 zweiten erst recht in seinem Gehalt herausgehoben; aber die pse_159.006 zweiten Worte verlieren durch »heilig« das Entwertete pse_159.007 (»nüchtern«) oder Einseitige (»trunken«), sie werden in eine pse_159.008 heilige Sphäre gehoben. pse_159.009 Mit dem Wort umgrenze ich also ein Stück im Erfahrungsstrom. pse_159.010 Im Lauf der Sprachentwicklung gestalten sich sprachlich pse_159.011 auch ganz bestimmte Arten des Erfassens aus: ob ich pse_159.012 dieses Etwas als einen lebendigen Vorgang fasse, als ein Etwas, pse_159.013 das mir deutlich gegenübersteht, oder als etwas, das mit mir pse_159.014 in einer bestimmten gemüthaften Beziehung steht. So entstehen pse_159.015 die Wortarten. Daran erkennen wir, daß auch sie stilwertig pse_159.016 sein können. Natürlich hat im Lauf der Zeit die pse_159.017 Grammatik verschiedene Systeme von Wortarten aufgestellt, pse_159.018 sie sind in die Mühle der Sprachregelung gekommen und pse_159.019 haben dabei ihre inneren Werte eingebüßt. Aber auch hier pse_159.020 kann vor allem der Dichter diese bestimmten Erfassungsweisen pse_159.021 neu beleben. Ohne ausführliche theoretische Besinnung pse_159.022 beleuchten wir das zunächst an den drei Haupt-Wortarten. pse_159.023 Im Substantiv erreicht das Herausgrenzen aus dem Erfahrungsstrom pse_159.024 einen besonderen Grad. Das Ausgegrenzte pse_159.025 wird ganz abgehoben, als gleichsam Dauerndes für sich gestellt: pse_159.026 es steht uns gegenüber als etwas für sich Bestehendes. pse_159.027 Wir können es daher gut als Gegenstandswort bezeichnen. pse_159.028 Auch solche Gebilde wie Tau, Gewölke werden durch die pse_159.029 Prägung in ein Gegenstandswort zu geistig greifbaren Gebilden, pse_159.030 zu Dauerndem. Ebenso werden sogenannte Abstrakta pse_159.031 in der Prägung als Gegenstandsworte gebildehaft, geistige pse_159.032 Gegenstände. Die Welt gerinnt durch die Kraft sprachlicher pse_159.033 Vergegenständlichung gleichsam in lauter uns umstehende pse_159.034 Blöcke, sie wird greifbar, plastisch. Dabei kann unser Inneres pse_159.035 ganz verschieden auf eine solche Welt antworten: das wir pse_159.036 mit dem Erfahrungsstrom geistig so fertig geworden sind, pse_159.037 läßt das Gefühl der Beruhigung oder des Herrschens aufkommen. pse_159.038 Die Blöcke können aber auch bedrohlich werden,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/175
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/175>, abgerufen am 28.04.2024.