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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Bedeutung, sondern der inneren Einstellung dazu. Oder pse_158.002
wie will man von der Sache her Kopf-Haupt-Grind unterscheiden? pse_158.003
Vom Gesamtwortgehalt her gibt es keine Synonyma, pse_158.004
denn die Einstellung zum Erfahrungsstück ist mit eingeformt, pse_158.005
und dadurch wird ein Wort kein Zeichen für eine Sache, pse_158.006
sondern ein Stück neuer geistiger Welt, ein Träger der Welt, pse_158.007
die zwischen Sache und Mensch steht. Freilich kann es Sachzeichen pse_158.008
werden. Aber der Dichter erweckt es wieder zum pse_158.009
Leben. "Der Dichter zwingt die Sprache in ihren Ursprung pse_158.010
zurück" (Riezler). Es bieten sich ihm dabei grundsätzlich zwei pse_158.011
Wege: er weckt den sogenannten Erfassungskern zu neuem pse_158.012
Leben, d. h. die Blickweise auf ein Stück Welt, die zum pse_158.013
Wort geführt hat. "Eine alte Hofdame des regierenden Häuschens pse_158.014
von Haslau" (Jean Paul). Im Wort "Häuschen" wird pse_158.015
der ursprüngliche Gehalt von "Haus" wieder lebendig, der pse_158.016
in der Wendung vom "regierenden Haus" erloschen ist. Oder pse_158.017
der Dichter leuchtet aus der Fülle und Einheit des ganzen pse_158.018
Wortgehalts eine besondere Stelle an, ein neues Stück Leben pse_158.019
blitzt in neuer Beleuchtung auf. Hebel erzählt einmal von pse_158.020
Dieben auf dem Markt und sagt: "Es waren auch manche pse_158.021
darunter, die einkaufen wollten ohne Geld, weil sie keins pse_158.022
hatten. Die Zigeuner heißens -- erben, und wo's ins Große pse_158.023
getrieben wird, nennt man's -- erobern." Wie wird da eine pse_158.024
bestimmte Seite am Wortgehalt von "erobern" scharf herausgehoben!

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Auch die Wortbildungsmöglichkeiten der Sprache bieten pse_158.027
Stilwerte. Schon die scheinbar so formalen Ableitungssilben: pse_158.028
lächeln neben lachen, oder die Verkleinerungssilben: diese bezeichnen pse_158.029
ja nicht rational einen kleinen Gegenstand, sondern pse_158.030
gestalten unser vertrauliches Verhältnis zu einem Stück Welt: pse_158.031
Mütterchen, Väterchen. "Bleistiftchen" würde etwa in einem pse_158.032
Märchen nie einen kleinen Bleistift benennen, sondern einen, pse_158.033
der uns lieb ist. Man hat bei Novalis zeigen können, wie in pse_158.034
den letzten Lebensjahren die Intensivierung des Innerlichkeitserlebnisses pse_158.035
an der Zunahme der Bildungen mit "in-" pse_158.036
Gestalt geworden ist. Besondere Werte können die Zusammensetzungen pse_158.037
erzeugen. Die Gehalte der Gliedworte fließen pse_158.038
ineinander und schaffen neue Gefühlstöne. Das Wort "Bier"

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Bedeutung, sondern der inneren Einstellung dazu. Oder pse_158.002
wie will man von der Sache her Kopf-Haupt-Grind unterscheiden? pse_158.003
Vom Gesamtwortgehalt her gibt es keine Synonyma, pse_158.004
denn die Einstellung zum Erfahrungsstück ist mit eingeformt, pse_158.005
und dadurch wird ein Wort kein Zeichen für eine Sache, pse_158.006
sondern ein Stück neuer geistiger Welt, ein Träger der Welt, pse_158.007
die zwischen Sache und Mensch steht. Freilich kann es Sachzeichen pse_158.008
werden. Aber der Dichter erweckt es wieder zum pse_158.009
Leben. »Der Dichter zwingt die Sprache in ihren Ursprung pse_158.010
zurück« (Riezler). Es bieten sich ihm dabei grundsätzlich zwei pse_158.011
Wege: er weckt den sogenannten Erfassungskern zu neuem pse_158.012
Leben, d. h. die Blickweise auf ein Stück Welt, die zum pse_158.013
Wort geführt hat. »Eine alte Hofdame des regierenden Häuschens pse_158.014
von Haslau« (Jean Paul). Im Wort »Häuschen« wird pse_158.015
der ursprüngliche Gehalt von »Haus« wieder lebendig, der pse_158.016
in der Wendung vom »regierenden Haus« erloschen ist. Oder pse_158.017
der Dichter leuchtet aus der Fülle und Einheit des ganzen pse_158.018
Wortgehalts eine besondere Stelle an, ein neues Stück Leben pse_158.019
blitzt in neuer Beleuchtung auf. Hebel erzählt einmal von pse_158.020
Dieben auf dem Markt und sagt: »Es waren auch manche pse_158.021
darunter, die einkaufen wollten ohne Geld, weil sie keins pse_158.022
hatten. Die Zigeuner heißens — erben, und wo's ins Große pse_158.023
getrieben wird, nennt man's — erobern.« Wie wird da eine pse_158.024
bestimmte Seite am Wortgehalt von »erobern« scharf herausgehoben!

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Auch die Wortbildungsmöglichkeiten der Sprache bieten pse_158.027
Stilwerte. Schon die scheinbar so formalen Ableitungssilben: pse_158.028
lächeln neben lachen, oder die Verkleinerungssilben: diese bezeichnen pse_158.029
ja nicht rational einen kleinen Gegenstand, sondern pse_158.030
gestalten unser vertrauliches Verhältnis zu einem Stück Welt: pse_158.031
Mütterchen, Väterchen. »Bleistiftchen« würde etwa in einem pse_158.032
Märchen nie einen kleinen Bleistift benennen, sondern einen, pse_158.033
der uns lieb ist. Man hat bei Novalis zeigen können, wie in pse_158.034
den letzten Lebensjahren die Intensivierung des Innerlichkeitserlebnisses pse_158.035
an der Zunahme der Bildungen mit »in-« pse_158.036
Gestalt geworden ist. Besondere Werte können die Zusammensetzungen pse_158.037
erzeugen. Die Gehalte der Gliedworte fließen pse_158.038
ineinander und schaffen neue Gefühlstöne. Das Wort »Bier«

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[158/0174] pse_158.001 Bedeutung, sondern der inneren Einstellung dazu. Oder pse_158.002 wie will man von der Sache her Kopf-Haupt-Grind unterscheiden? pse_158.003 Vom Gesamtwortgehalt her gibt es keine Synonyma, pse_158.004 denn die Einstellung zum Erfahrungsstück ist mit eingeformt, pse_158.005 und dadurch wird ein Wort kein Zeichen für eine Sache, pse_158.006 sondern ein Stück neuer geistiger Welt, ein Träger der Welt, pse_158.007 die zwischen Sache und Mensch steht. Freilich kann es Sachzeichen pse_158.008 werden. Aber der Dichter erweckt es wieder zum pse_158.009 Leben. »Der Dichter zwingt die Sprache in ihren Ursprung pse_158.010 zurück« (Riezler). Es bieten sich ihm dabei grundsätzlich zwei pse_158.011 Wege: er weckt den sogenannten Erfassungskern zu neuem pse_158.012 Leben, d. h. die Blickweise auf ein Stück Welt, die zum pse_158.013 Wort geführt hat. »Eine alte Hofdame des regierenden Häuschens pse_158.014 von Haslau« (Jean Paul). Im Wort »Häuschen« wird pse_158.015 der ursprüngliche Gehalt von »Haus« wieder lebendig, der pse_158.016 in der Wendung vom »regierenden Haus« erloschen ist. Oder pse_158.017 der Dichter leuchtet aus der Fülle und Einheit des ganzen pse_158.018 Wortgehalts eine besondere Stelle an, ein neues Stück Leben pse_158.019 blitzt in neuer Beleuchtung auf. Hebel erzählt einmal von pse_158.020 Dieben auf dem Markt und sagt: »Es waren auch manche pse_158.021 darunter, die einkaufen wollten ohne Geld, weil sie keins pse_158.022 hatten. Die Zigeuner heißens — erben, und wo's ins Große pse_158.023 getrieben wird, nennt man's — erobern.« Wie wird da eine pse_158.024 bestimmte Seite am Wortgehalt von »erobern« scharf herausgehoben! pse_158.025 pse_158.026 Auch die Wortbildungsmöglichkeiten der Sprache bieten pse_158.027 Stilwerte. Schon die scheinbar so formalen Ableitungssilben: pse_158.028 lächeln neben lachen, oder die Verkleinerungssilben: diese bezeichnen pse_158.029 ja nicht rational einen kleinen Gegenstand, sondern pse_158.030 gestalten unser vertrauliches Verhältnis zu einem Stück Welt: pse_158.031 Mütterchen, Väterchen. »Bleistiftchen« würde etwa in einem pse_158.032 Märchen nie einen kleinen Bleistift benennen, sondern einen, pse_158.033 der uns lieb ist. Man hat bei Novalis zeigen können, wie in pse_158.034 den letzten Lebensjahren die Intensivierung des Innerlichkeitserlebnisses pse_158.035 an der Zunahme der Bildungen mit »in-« pse_158.036 Gestalt geworden ist. Besondere Werte können die Zusammensetzungen pse_158.037 erzeugen. Die Gehalte der Gliedworte fließen pse_158.038 ineinander und schaffen neue Gefühlstöne. Das Wort »Bier«

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/174>, abgerufen am 22.11.2024.