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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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die mit anderen Werten verbunden sind. Während pse_135.002
Wahrheit und Nutzen etwa auch ohne die Freude an ihnen pse_135.003
bestehen können, ist die Lust im ästhetischen Gebiet wertekonstituierend, pse_135.004
d. h. ohne sie kann der ästhetische Gegenstand pse_135.005
gar nicht in Erscheinung treten. Aber sie besteht etwa pse_135.006
nicht darin, daß die sinnliche Seite an einem Kunstwerk als pse_135.007
solche Lust weckt, also die ausgelösten Farben- und Tonempfindungen pse_135.008
(dazu gehören auch die Gehörseindrücke bei pse_135.009
der Sprache) usw., sondern sie setzt erst ein, wenn dieses pse_135.010
Gegebene unserer Schau Tieferes enthüllt, wenn es also als pse_135.011
Erscheinung (von etwas) wirkt. Die Freude am Erscheinenden pse_135.012
schließt den Drang nach dessen "Besitz" aus. Es hätte nichts pse_135.013
mit ästhetischer Lust zu tun, wenn wir uns am Besitz einer pse_135.014
Statue oder eines Gemäldes freuten. Das meint Kant mit dem pse_135.015
interesselosen Wohlgefallen. In der Tatsache, daß im Kunstwerk pse_135.016
etwas erscheint, ist dann der Weg geöffnet, daß im pse_135.017
ästhetischen Erleben andere höhere Werte aufgehen und eingefügt pse_135.018
werden. In der Tatsache, daß Dichtung in Sprache ins pse_135.019
Leben tritt und Sprache selbst schon ein geistiges Gebilde ist, pse_135.020
liegt der große Unterschied zu anderen Künsten. Denn das, pse_135.021
was man als ästhetische Schau sehr leicht bei den anderen pse_135.022
Künsten (auch bei der Musik bei gehöriger Erweiterung des pse_135.023
Wortgehaltes von "Schau") abheben kann, ist bei der Dichtung, pse_135.024
die ein Erfassen sprachlicher Gebilde zur Grundlage pse_135.025
hat, nicht so einfach zu umschreiben.

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Was wir ästhetisch erleben, machen wir dadurch für uns zu pse_135.027
einem ästhetischen Gegenstand. Nicht jedes Stück der Außenwirklichkeit pse_135.028
ist gleich geeignet dazu; aber ein Baum kann pse_135.029
bald ein praktisches Gut, bald ein Erkenntnisgegenstand, bald pse_135.030
ein ästhetischer Gegenstand sein, je nach der inneren Haltung, pse_135.031
in der ihn ein Mensch erfaßt. Im ästhetischen Gegenstand pse_135.032
öffnet sich in seinem Erscheinen, in der Fülle und Gefügtheit pse_135.033
seiner Gebildehaftigkeit etwas Tieferes. Je reiner und vollkommener pse_135.034
dieses Tiefere im Gebilde selbst sich enthüllt, pse_135.035
desto reiner verwirklicht sich das dem ästhetischen Gebiet pse_135.036
zukommende Wertmerkmal der Schönheit. So haben wir es pse_135.037
genannt (S. 16) und sind uns dessen bewußt, daß wir den pse_135.038
Begriff damit sehr weit fassen und das Schöne nicht auf den

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die mit anderen Werten verbunden sind. Während pse_135.002
Wahrheit und Nutzen etwa auch ohne die Freude an ihnen pse_135.003
bestehen können, ist die Lust im ästhetischen Gebiet wertekonstituierend, pse_135.004
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gar nicht in Erscheinung treten. Aber sie besteht etwa pse_135.006
nicht darin, daß die sinnliche Seite an einem Kunstwerk als pse_135.007
solche Lust weckt, also die ausgelösten Farben- und Tonempfindungen pse_135.008
(dazu gehören auch die Gehörseindrücke bei pse_135.009
der Sprache) usw., sondern sie setzt erst ein, wenn dieses pse_135.010
Gegebene unserer Schau Tieferes enthüllt, wenn es also als pse_135.011
Erscheinung (von etwas) wirkt. Die Freude am Erscheinenden pse_135.012
schließt den Drang nach dessen »Besitz« aus. Es hätte nichts pse_135.013
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Statue oder eines Gemäldes freuten. Das meint Kant mit dem pse_135.015
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etwas erscheint, ist dann der Weg geöffnet, daß im pse_135.017
ästhetischen Erleben andere höhere Werte aufgehen und eingefügt pse_135.018
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Leben tritt und Sprache selbst schon ein geistiges Gebilde ist, pse_135.020
liegt der große Unterschied zu anderen Künsten. Denn das, pse_135.021
was man als ästhetische Schau sehr leicht bei den anderen pse_135.022
Künsten (auch bei der Musik bei gehöriger Erweiterung des pse_135.023
Wortgehaltes von »Schau«) abheben kann, ist bei der Dichtung, pse_135.024
die ein Erfassen sprachlicher Gebilde zur Grundlage pse_135.025
hat, nicht so einfach zu umschreiben.

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Was wir ästhetisch erleben, machen wir dadurch für uns zu pse_135.027
einem ästhetischen Gegenstand. Nicht jedes Stück der Außenwirklichkeit pse_135.028
ist gleich geeignet dazu; aber ein Baum kann pse_135.029
bald ein praktisches Gut, bald ein Erkenntnisgegenstand, bald pse_135.030
ein ästhetischer Gegenstand sein, je nach der inneren Haltung, pse_135.031
in der ihn ein Mensch erfaßt. Im ästhetischen Gegenstand pse_135.032
öffnet sich in seinem Erscheinen, in der Fülle und Gefügtheit pse_135.033
seiner Gebildehaftigkeit etwas Tieferes. Je reiner und vollkommener pse_135.034
dieses Tiefere im Gebilde selbst sich enthüllt, pse_135.035
desto reiner verwirklicht sich das dem ästhetischen Gebiet pse_135.036
zukommende Wertmerkmal der Schönheit. So haben wir es pse_135.037
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[135/0151] pse_135.001 die mit anderen Werten verbunden sind. Während pse_135.002 Wahrheit und Nutzen etwa auch ohne die Freude an ihnen pse_135.003 bestehen können, ist die Lust im ästhetischen Gebiet wertekonstituierend, pse_135.004 d. h. ohne sie kann der ästhetische Gegenstand pse_135.005 gar nicht in Erscheinung treten. Aber sie besteht etwa pse_135.006 nicht darin, daß die sinnliche Seite an einem Kunstwerk als pse_135.007 solche Lust weckt, also die ausgelösten Farben- und Tonempfindungen pse_135.008 (dazu gehören auch die Gehörseindrücke bei pse_135.009 der Sprache) usw., sondern sie setzt erst ein, wenn dieses pse_135.010 Gegebene unserer Schau Tieferes enthüllt, wenn es also als pse_135.011 Erscheinung (von etwas) wirkt. Die Freude am Erscheinenden pse_135.012 schließt den Drang nach dessen »Besitz« aus. Es hätte nichts pse_135.013 mit ästhetischer Lust zu tun, wenn wir uns am Besitz einer pse_135.014 Statue oder eines Gemäldes freuten. Das meint Kant mit dem pse_135.015 interesselosen Wohlgefallen. In der Tatsache, daß im Kunstwerk pse_135.016 etwas erscheint, ist dann der Weg geöffnet, daß im pse_135.017 ästhetischen Erleben andere höhere Werte aufgehen und eingefügt pse_135.018 werden. In der Tatsache, daß Dichtung in Sprache ins pse_135.019 Leben tritt und Sprache selbst schon ein geistiges Gebilde ist, pse_135.020 liegt der große Unterschied zu anderen Künsten. Denn das, pse_135.021 was man als ästhetische Schau sehr leicht bei den anderen pse_135.022 Künsten (auch bei der Musik bei gehöriger Erweiterung des pse_135.023 Wortgehaltes von »Schau«) abheben kann, ist bei der Dichtung, pse_135.024 die ein Erfassen sprachlicher Gebilde zur Grundlage pse_135.025 hat, nicht so einfach zu umschreiben. pse_135.026 Was wir ästhetisch erleben, machen wir dadurch für uns zu pse_135.027 einem ästhetischen Gegenstand. Nicht jedes Stück der Außenwirklichkeit pse_135.028 ist gleich geeignet dazu; aber ein Baum kann pse_135.029 bald ein praktisches Gut, bald ein Erkenntnisgegenstand, bald pse_135.030 ein ästhetischer Gegenstand sein, je nach der inneren Haltung, pse_135.031 in der ihn ein Mensch erfaßt. Im ästhetischen Gegenstand pse_135.032 öffnet sich in seinem Erscheinen, in der Fülle und Gefügtheit pse_135.033 seiner Gebildehaftigkeit etwas Tieferes. Je reiner und vollkommener pse_135.034 dieses Tiefere im Gebilde selbst sich enthüllt, pse_135.035 desto reiner verwirklicht sich das dem ästhetischen Gebiet pse_135.036 zukommende Wertmerkmal der Schönheit. So haben wir es pse_135.037 genannt (S. 16) und sind uns dessen bewußt, daß wir den pse_135.038 Begriff damit sehr weit fassen und das Schöne nicht auf den

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/151>, abgerufen am 28.04.2024.